Donnerstag, Oktober 10

Muhammad Elalwany / AP

Die Flutkatastrophe von Derna 2023 war ein Symbol für das Versagen der ostlibyschen Regierung. Nun will der gefürchtete Machthaber Khalifa Haftar zeigen, dass er das Land nach vorne bringen kann. Ein Besuch in seinem Reich.

«Vor kurzem waren wir noch in der Hölle. Jetzt sind wir im Paradies», sagt Karim Steitah. Der 29-jährige Hochzeitsfotograf sitzt in einer neu errichteten Parkanlage in Derna. Um ihn herum spielen Kinder Fussball. Männer sitzen im Gras oder auf Plastikstühlen und trinken Kaffee. Im Hintergrund glänzen frisch verputzte Häuserzeilen im Licht der untergehenden Sonne.

Vor etwas mehr als einem Jahr, in der Nacht vom 10. auf den 11. September 2023, brachte das Sturmtief «Daniel» sintflutartigen Regen nach Derna. «Die Strassen waren mit einem Mal voller Wasser, wie Flüsse», erinnert sich Steitah. «Der Pegel stieg immer höher.» In der Nacht brachen dann in den Bergen oberhalb der Stadt zwei Dämme. Kurz darauf wälzte sich eine gewaltige Sturzflut durch Derna, riss Autos, Bäume, ganze Häuser und ihre Bewohner mit ins Meer.

Über 5000 Menschen starben bei der Katastrophe. Tausende weitere wurden verletzt oder sind immer noch verschollen. Karim Steitah verlor acht Mitglieder seiner Familie. «Meine Onkel, meine Cousins und meine Freunde sind in dieser Nacht gestorben. Der Verlust schmerzt bis heute.»

Im neuen Libyen wird pausenlos gebaut

Derna, die kleine Küstenstadt im äussersten Osten Libyens, wurde in jener Horrornacht zu einem Symbol für Zerstörung und Leid – aber auch für das Versagen der Regierung, die die Dämme nicht gewartet hatte. Derna stand sinnbildlich für den desolaten Zustand des ölreichen nordafrikanischen Landes, das nach Jahren des Bürgerkriegs, der Milizenherrschaft und der Korruption komplett am Boden liegt.

Ein Jahr später steht Derna für etwas anderes: für ein neues Libyen, in dem pausenlos gebaut wird, wo Hochhäuser errichtet werden, Wohnblöcke, neue Strassen und Brücken. Vor allem Brücken. Sie sind – so scheint es – die neuen Wahrzeichen dieses Landes, das sich zumindest in Teilen neu erfinden will.

Wer heute durch Derna fährt, erkennt die Stadt kaum wieder. Wo einst von Schlamm bedeckte Ruinen standen, sind jetzt riesige Gruben und Baustellen zu sehen. Ägyptische und türkische Unternehmen giessen Fundamente für neue Wohnsiedlungen, teeren Strassen und verputzen Häuser.

Hinter dem gewaltigen Wiederaufbauprojekt, das wie aus dem Nichts kam, steht der libysche Entwicklungs- und Wiederaufbaufonds. Es ist eine Art Staatsfonds, dessen Mittel scheinbar unbegrenzt sind. Überall im Osten Libyens trifft man inzwischen auf Leute, die für diesen Fonds arbeiten – Ingenieure, Projektmanager und Fahrer.

Neue Stadien und Schnellstrassen

Walid al-Baraesi, ein Ex-Unternehmer aus der Ostmetropole Benghasi, ist seit zwei Monaten für den Fonds tätig. Der 50-Jährige mit Ray-Ban-Sonnenbrille, italienischem Hemd und Leder-Slippers arbeitet als Chefeinkäufer. Er fährt aber auch Journalisten nach Derna, wenn es sein muss. «Ich bin stolz, für die Zukunft meines Land tätig zu sein», sagt er, während im Auto Neunziger-Jahre-Musik von Bryan Adams und Dr. Alban läuft.

Der Fonds sei längst nicht nur in Derna aktiv, erklärt Baraesi während der Fahrt in die Katastrophenstadt. Überall im Süden und im Osten Libyens werde gebaut. In Benghasi etwa errichten seine Leute nicht nur ein neues Stadion und unzählige Schnellstrassen, sondern gleich auch eine moderne Uferpromenade. Später soll auch die durch jahrelange Vernachlässigung und brutale Kämpfe zerstörte Altstadt renoviert werden.

Benghasi habe sich zuvor in einem endlosen Niedergang befunden, sagt Baraesi, der hier die tristen Ghadhafi-Jahre miterlebt hat und später den Bürgerkrieg, als sich vorübergehend radikale Islamisten in seiner Heimatstadt einnisteten. «Jetzt ist die Stadt wieder sicher, man kann abends rausgehen, und überall gibt es neue Restaurants. Darauf haben wir alle gewartet.»

Verantwortlich für den Fonds ist Belkassem Haftar – der Sohn von Khalifa Haftar, dem mächtigsten unter den zahlreichen Kriegsherren Libyens. Der inzwischen 80-jährige ehemalige General war in den Wirren nach dem Sturz des Diktators Muammar al-Ghadhafi im Jahr 2011 zum unumstrittenen Herrscher des Ostens aufgestiegen. Jetzt hat er seinem Filius Belkassem die wohl wichtigste Aufgabe in seinem Reich übertragen.

Für Haftar könnte sich das auszahlen

Denn Haftar protegiert in Benghasi eine Gegenadministration zu der international anerkannten Regierung Libyens in der Hauptstadt Tripolis, die er noch 2020 vergeblich zu erobern versuchte. Mit seiner Beton-Offensive will er nun zeigen, dass er der Einzige ist, der im Chaos-Staat Libyen für Ordnung sorgen kann. Dafür hat er eine Kriegskasse von schätzungsweise 10 Milliarden Dollar pro Jahr bereitgestellt.

«Wir haben einen grossen Masterplan, um das ganze Land zu entwickeln», sagt Agila al-Abbar, einer der Leiter des Fonds am Telefon. Er ist gerade gemeinsam mit seinem Chef Belkassem Haftar in Washington. Immer wieder vergibt der Fonds neue Grossaufträge. Ostlibyen, das zuvor nur aus halbfertigen Betonklötzen und staubigen Strassen zu bestehen schien, ist mit einem Mal zu einem Eldorado für Baufirmen geworden.

Für Haftar könnte sich das auszahlen. Denn der mit Russland und den Emiraten verbündete Rebellen-General, der gegenüber der Regierung in Tripolis oft das Nachsehen hatte, gewinnt an Statur. Inzwischen pilgern sogar westliche Würdenträger in sein Reich. «Natürlich helfen die Bauprojekte», sagt ein Politiker aus der Ostregierung in Benghasi, der im aussenpolitischen Ausschuss des Parlaments sitzt. «Die Leute sehen, dass es hier vorwärtsgeht.»

Dabei kommt ihm entgegen, dass sich die Konkurrenz in Tripolis derzeit nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Denn während im Haftar-Land eifrig gebaut wird, droht der Westen einmal mehr im Bürgerkrieg zu versinken. Erst kürzlich entliess dort der Ministerpräsident Abdulhamid Dbeiba den mächtigen Zentralbankchef Sadik al-Kabir. Seither rüsten die verfeindeten Milizen beider Seiten zum Kampf.

«Hier herrscht wenigstens Ruhe»

Angesichts solcher Zustände scheinen im Osten viele hinzunehmen, dass Haftar und seine Söhne – zu denen neben Belkassem auch der gefürchtete Saddam mit seinen Spezialeinheiten gehört – mit eiserner Faust herrschen. Nach Jahren des Krieges haben viele Libyer genug vom Chaos. «Hier herrscht wenigstens Ruhe», sagt ein junger Mann, der in einer der zahlreichen neuen Kaffeebars in Benghasi arbeitet.

In ein paar Jahren werde Benghasi das neue Dubai sein, sagt er überzeugt. Davon ist die staubige, kriegsversehrte Stadt zwar noch weit entfernt. Dennoch gibt es inzwischen auch hier eine Shopping-Strasse voller Restaurants und Malls, die mit ihrem vielen Gold ein bisschen an die Golfstaaten erinnern. Jüngst waren offenbar sogar die ausrangierten Sportstars Ronaldinho und Mike Tyson zu Besuch. Die reichen, autoritär geführten Petro-Monarchien gelten auch in Libyen als das grosse Vorbild.

«Wir im Osten wurden immer vernachlässigt, schon unter Ghadhafi», sagt der Chefeinkäufer Baraesi. Dabei habe Ostlibyen Potenzial. Wer von Benghasi durch von Pinienhainen bedeckte Berge nach Derna fährt, kommt an den griechischen Ruinen von Kyrene, pittoresken Landhäusern aus der italienischen Kolonialzeit und unberührten Stränden vorbei. «Irgendwann mache ich ein Tourismusunternehmen auf», sagt Baraesi.

Geht es nach Haftar, soll sich das verschlossene Land jetzt öffnen. Noch unmittelbar nach der Katastrophe in Derna hatte sein Militär internationale Journalisten rausgeworfen und angeblich sogar Helfer behindert. Jetzt hingegen lädt der Fonds ausländische Besucher ein, bringt sie in eigenen Hotels unter. «Wir wollen unsere Sicht der Dinge darlegen», sagt der Fondsleiter Agila al-Abbar. «Die Leute sollen sehen, was wir tun und dass wir es ernst meinen.»

Das Geld stammt von der Zentralbank

All das geschehe nur zum Wohle der Bevölkerung, betonen die Mitarbeiter des Wiederaufbaufonds. So werden im kaputten Derna Tausende neue Wohnungen gebaut, bezugsfertig mit Einrichtung. Zudem entstanden Krankenhäuser, Schulen und Parks. Bewohner, die alles verloren hatten, wurden angeblich sogar entschädigt – mit Zahlungen von bis zu 100 000 Dinar pro Familie, was ungefähr 20 000 Franken entspricht.

Kritiker bemängeln, die Verteilung der Gelder sei undurchsichtig. Zudem werfen sie den Haftars vor, für den Fonds massiv Geld aus der Zentralbank abzuzweigen. Tatsächlich sass mit Sadik al-Kabi einer ihrer Verbündeten auf dem Chefsessel der Bank. Womöglich war auch das ein Grund für die Regierung in Tripolis, den Banker von seinem Sessel zu entfernen. Als Reaktion darauf drehten die Haftars, in deren Einflussbereich Libyens Ölfelder liegen, kurzerhand den Ölhahn zu.

Abbar ärgert sich über derartige Kritik. Der Fonds sei gesetzlich verankert, es gebe Kontrollmechanismen, sagt er. Trotzdem, so sagt es ein Politiker in Benghasi, entscheide das Leitungsgremium unter Haftars Sohn das meiste im Alleingang. Immer wieder wird der Vorwurf laut, der Fonds diene den Haftars dazu, sich Einfluss in Libyen zu erkaufen. Zudem schüfen der Bauboom und die mit ihm verbundene Korruption neue Realitäten. «Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer», sagt der Politiker, der anonym bleiben will.

Auch aus Derna kommt leise Kritik. Es sei ja gut, dass so viel gebaut werde, sagt ein beleibter Hotelbesitzer, der sein Vermögen in Kanada gemacht hat. «Aber manchmal wäre es gut, die ägyptischen und türkischen Baufirmen würden auch ein bisschen auf die Einheimischen hören.» Schliesslich drohe die Stadt ihren Charakter zu verlieren. «Das schmerzt trotz allem.»

«Erst muss sich die Mentalität ändern»

Dass Derna, wo der Fonds unter anderem ein Fünfsternehotel baut, nun zur Touristenhochburg wird, wie manche hoffen, glaubt der lokale Hotelier aber nicht. «Dazu muss sich erst die Mentalität ändern», sagt er über seine konservative Heimatstadt, wo vor acht Jahren sogar noch der Islamische Staat sein Unwesen trieb. «Ich kann mir kaum vorstellen, dass hier die Mädchen im Bikini am Strand liegen.»

Die meisten Bewohner Dernas hingegen freuen sich vor allem über den Geldregen, der jetzt unverhofft über der einst vergessenen Stadt niedergeht. Ihn schmerze es bloss, dass seine toten Familienmitglieder dieses neue Derna nicht mehr sehen könnten, sagt Steitah, der Hochzeitsfotograf. «Ich hätte alles dafür gegeben, dass sie das noch hätten miterleben dürfen.»

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