Die vier befreiten israelischen Geiseln wurden in Privatwohnungen in einem Flüchtlingslager festgehalten. Derweil wird Israel für die hohe Zahl ziviler Opfer während der Operation scharf kritisiert – es tobt ein Informationskrieg.
Abdallah al-Jamal gab den Palästinensern in Gaza eine Stimme. Für die palästinensische Online-Zeitung «The Palestine Chronicle» besuchte er Flüchtlingslager, sprach mit Kranken und berichtete mit viel Empathie über das Schicksal von «Märtyrern», die bei israelischen Angriffen getötet worden waren. Jamal klagte auch an: Der 36-Jährige verurteilte in seinen Texten die durch Israel verübten «Massaker» und den «Genozid» an den Palästinensern. Allein im vergangenen Mai publizierte er 14 Texte – um die Hamas ging es darin nie.
Nach eigenen Angaben beschäftigt «The Palestine Chronicle» «professionelle Journalisten und angesehene Schriftsteller», die keine politische Agenda verträten. Bei Abdallah al-Jamal scheint die stark israelkritische Zeitung aber nicht allzu genau hingeschaut haben. Denn einerseits amtete der junge Mann früher als Sprecher des Arbeitsministeriums in Gaza. Und andererseits hielt er nach Angaben der israelischen Streitkräfte (IDF) drei der vier Geiseln, die am Samstag befreit wurden, in seiner Wohnung im Flüchtlingslager Nuseirat fest.
Verifizieren lässt sich dies nicht. Allerdings hatte die Israel-kritische Nichtregierungsorganisation Euro-Med Monitor mit Sitz in Genf schon am Samstag berichtet, israelische Soldaten hätten die Wohnung von Jamal bei ihrer Operation gestürmt. Dabei seien Jamal, seine Frau und sein Vater getötet worden. Die Geiseln wurden dabei nicht erwähnt. Dieselbe NGO säte noch am Sonntag Zweifel an der israelischen Darstellung. So sei Jamals Wohnhaus nur eines von sieben gewesen, welche die Armee gestürmt habe, eine Verbindung zu den Geiseln lasse sich nicht nachweisen. Bereits tobt der Informationskrieg um die Operation.
Abdallah Aljamal, Palestine Chronicle contributor from Gaza, was one of the 210 Palestinians killed in the Nuseirat massacre on Saturday. pic.twitter.com/kkD3Y4fbY3
— The Palestine Chronicle (@PalestineChron) June 9, 2024
Zahlreiche zivile Opfer
Klar scheint jedoch, dass die vier am Samstag befreiten Geiseln nicht in Tunneln der Hamas, sondern in zwei Privatwohnungen in Nuseirat festgehalten wurden. Das Flüchtlingslager im zentralen Gazastreifen ist eines der wenigen Gebiete, in denen israelische Bodentruppen bisher kaum aktiv gewesen sind. Daher befinden sich dort viele durch den Krieg vertriebene Palästinenser. Israel wirft der Hamas vor, die Geiseln bewusst in dem dichtbesiedelten Gebiet festgehalten und so mit menschlichen Schutzschilden umgeben zu haben.
Laut dem von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministerium in Gaza sind bei der Befreiungsaktion am Samstag mindestens 274 Palästinenser getötet und 700 weitere verletzt worden, die meisten davon Frauen und Kinder. Israel spricht von weniger als 100 Getöteten. Beide Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Unklar ist auch, wie viele Hamas-Terroristen unter den Toten sind.
Schon vor dem eigentlichen Militäreinsatz zur Befreiung der Geiseln hatte die israelische Luftwaffe das Gebiet heftig bombardiert. Anschliessend drangen Spezialkräfte zu den Häusern vor, worauf heftige Feuergefechte in den Strassen von Nuseirat ausbrachen. Dabei wurde auch ein israelischer Offizier der Anti-Terror-Einheit Yamam getötet. Laut israelischen Angaben war die Aktion während Wochen geplant worden.
Drei weitere Geiseln laut Hamas getötet
Während in Israel die Befreiung der vier Geiseln frenetisch gefeiert wurde, sorgte die hohe Zahl ziviler Opfer international für scharfe Kritik. Josep Borrell, der Aussenbeauftragte der EU, sprach von einem «weiteren Massaker an Zivilisten» und forderte gleichzeitig die Freilassung aller israelischen Geiseln. Francesca Albanese, Sonderberichterstatterin der Uno für die palästinensischen Gebiete, warf Israel «in die Tat umgesetzte genozidale Absicht» vor.
Albanese sprach von einem «heimtückischen» Vorgehen der Israeli und «humanitärer Camouflage». Sie spielte damit auf Berichte in arabischen Medien an, wonach die israelischen Soldaten als palästinensische Flüchtlinge verkleidet ein Fahrzeug einer humanitären Organisation genutzt hatten, um in das Flüchtlingslager zu gelangen. Sollte dies zutreffen, hätte Israel womöglich gegen das gesetzliche Verbot der Heimtücke in bewaffneten Konflikten verstossen. Die israelische Armee bestritt die Vorwürfe allerdings. Auch Berichte, dass die IDF den von den USA errichteten humanitären Pier an der Küste des Gazastreifens für ihre Operation genutzt hätten, träfen nicht zu.
Für die Hamas, die die israelischen Geiseln als menschliche Verhandlungsmasse missbraucht, ist die Operation vom Samstag ein Rückschlag. Sie behauptete nur Stunden später, dass die IDF bei der Aktion drei weitere Geiseln durch Luftangriffe selbst getötet hätten. Sie lieferte dafür jedoch keine stichhaltigen Beweise. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Terrororganisation versucht, mit psychologischer Kriegsführung Druck auf Israel auszuüben.
Hamas könnte ihre Taktik ändern
Die «New York Times» berichtete am Sonntag unter Berufung auf israelische Beamte, dass die Hamas-Terroristen die Weisung hätten, die Geiseln sofort zu erschiessen, wenn sich die israelische Armee nähere. Beobachter gehen davon aus, dass die Hamas nun ihre Taktik überdenken wird, um weitere Befreiungsaktionen zu verunmöglichen. Es ist denkbar, dass sie fortan wieder mehr Geiseln in Tunneln statt in privaten Wohnungen verstecken wird.
So ist fraglich, ob in naher Zukunft ähnliche Befreiungsoperationen möglich sind. Bisher hat die Armee in drei verschiedenen Aktionen sieben Geiseln befreit. 105 Geiseln kamen im November im Rahmen eines Abkommens frei. Nach wie vor befinden sich aber rund 120 Geiseln im Gazastreifen. Die israelische Armee geht davon aus, dass 43 von ihnen bereits tot sind. Derweil stecken die Verhandlungen um ein erneutes Geiselabkommen weiterhin fest.