Montag, August 18

Lange war der «Guardian» bloss ein verstaubtes linksliberales Blatt mit mittelgrosser Auflage, heute ist er eines der reichweitenstärksten Onlinemedien. Ein Buch zeichnet die Geschichte der britischen Zeitung nach. Mit all ihren Widersprüchen.

Um einen Eindruck davon zu bekommen, wo die Tageszeitung «The Guardian» in der britischen Presselandschaft historisch zu verorten ist, hilft ein Leserbrief vom 6. Juli 1987. Darin erzählt ein Leser des «Guardian», er habe kürzlich einen Raucher in einer Nichtraucherlounge des Londoner Flughafens Heathrow gebeten, nicht zu rauchen. Worauf ihm dieser geantwortet habe: «Was sind Sie, ein Leser des ‹Guardian›, oder was?»

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Die 1821 gegründete Zeitung gilt als linksliberales Blatt für «Müesli essende», «Volvo fahrende» und «Sandalen tragende» Spiesser mit Labour-Parteibuch. Dies schreibt Ian Mayes, selbst langjähriger Redaktor der Zeitung, im ersten Band zu deren Geschichte. So stand der «Guardian» politisch in Opposition zu Margaret Thatchers neoliberaler Regentschaft und publizistisch im Schatten des konservativen Konkurrenten «The Daily Telegraph». Der «Guardian» hat diesen mittlerweile weit überholt und gehört mit über 300 Millionen monatlichen Besuchern seiner Website und 1 Million bezahlender Unterstützer zu den zehn reichweitenstärksten Onlinemedien der Welt.

Vorbild und weniger vorbildlich

Früher als andere Zeitungen nahm der «Guardian» den globalen Süden in den Fokus. Bereits 1978 erschien im monatlichen Rhythmus eine Rubrik mit dem Titel «The Third World Review», in enger Zusammenarbeit mit vor Ort ansässigen Journalisten. Ein Modell, das sich inzwischen beim Berichten über schwer erreichbare Weltregionen bei Qualitätsmedien weltweit etabliert hat. Einzig die Querfinanzierung der «Third World Review» durch eine von einem Pakistaner gegründete luxemburgische Grossbank stellte sich schliesslich als weniger vorbildlich heraus.

Es gehört zur Gründlichkeit von Ian Mayes’ Buch, dass er auch die inneren Auseinandersetzungen in der Redaktion des «Guardian» abbildet. Dass beispielsweise die Leserbriefseite in den achtziger Jahren den Eindruck vermittelte, der «Guardian» werde ausschliesslich von maoistischen Lehrern gelesen, was weniger mit der tatsächlichen Leserschaft zu tun gehabt habe als mit der Auswahl des zuständigen Leserbriefredaktors, ist durchaus unterhaltsam.

Genauso sind es die Einblicke in die Strassenkämpfe zwischen den britischen Druckergewerkschaften und Rupert Murdochs Zeitungsimperium 1986 oder den von ihm angezettelten «Preiskrieg» zu Beginn der 1990er Jahre.

Junge Leserschaft

Am packendsten ist Mayes’ Buch, wenn er von seinen Kollegen und vor allem auch Kolleginnen erzählt, die hautnah von den weltpolitischen Umbrüchen jener Zeit berichteten. Beispielsweise davon, dass der Ressortleiter der Wochenendbeilage im November 1989 auf eine «Sauftour» nach Berlin aufbricht und zufälligerweise den Fall der Berliner Mauer miterlebt. Oder davon, dass der «Guardian» während des ersten Golfkrieges eines der wenigen Medien weltweit ist, für die ein Journalist direkt aus Bagdad berichtet.

Es ist diese für den «Guardian» typische Unmittelbarkeit und journalistische Emphase, die zu Beginn der 1990er Jahre auch die britische Öffentlichkeit über das Grauen und die Massaker des Bosnien-Krieges aufrüttelt.

Publizistisch gelingt es der Zeitung, sich mit dem Kauf der Sonntagszeitung «The Observer» und einer neugestalteten Samstagsbeilage im eigentlich dem Boulevard vorbehaltenen Tabloidformat einer neuen, jungen Leserschaft zu öffnen. Als der langjährige Chefredaktor Peter Preston 1995 abtritt, findet sie im digitalaffinen 41-jährigen Alan Rusbridger einen Nachfolger, der den «Guardian» bald in eine ungeahnt erfolgreiche Zukunft führen würde.

Ian Mayes: Witness in a Time of Turmoil. Inside the Guardian’s Global Revolution. Volume One: 1986–1995. Guardian Books, 2025. 344 S., Fr. 46.90.

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