Der italienische Schriftsteller Davide Coppo erzählt in seinem Debütroman die moderne Geschichte eines verlorenen Sohnes.
Später wusste Ettore nicht mehr zu sagen, wo alles begann und wie aus ihm, dem schüchternen Kind aus einem Vorort Mailands, ein gewaltbereiter Faschist werden konnte. Kurz vor seinem 18. Geburtstag findet er sich zu Hause bei seinen Eltern, zu einem halben Jahr Hausarrest verurteilt. Träge zieht der Sommer durchs Land, er verbringt die Tage hinter geschlossenen Fensterläden. Draussen hört er den Alltag vorüberziehen, zugleich horcht er nach innen. Wo begann es, wo lief etwas schief?
In seinem Romanerstling «Der Morgen gehört uns» zeigt der Mailänder Schriftsteller Davide Coppo den jungen Ettore an einem Wendepunkt seines Lebens. War er lange ein Getriebener, der rastlos seine Tage verbrachte, steht plötzlich alles still. Der Jugendliche beweist in diesem Augenblick eine erstaunliche Reife. Da ihm schlagartig das Leben draussen abhandengekommen ist, beginnt er eine Reise in die Vergangenheit. Er hätte auch rebellieren können.
Sorgfältig gedeckter Tisch
Ettore macht instinktiv das Richtige, indem er wissen will, wo das Verhängnis seinen Lauf genommen hatte. Er merkt rasch: Es gab nicht den einen Entscheid, immer wieder stand er an Weggabelungen, wo sein Leben noch einmal eine andere Richtung hätte nehmen können oder wo eine Umkehr möglich gewesen wäre. Seine psychische Labilität machte ihn allerdings anfällig, falschen Lockrufen zu folgen.
Davide Coppo findet dafür ein schönes Bild: «Tragödien sind sorgfältig gedeckte Tische, nicht das spontane Stückwerk eines schlechten Tages.» Zu einem solcherart mit Sorgfalt gedeckten Tisch gehören für Ettore Einsamkeit und Unsicherheit. Seine Eltern sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie sich mit der nötigen Aufmerksamkeit dem Kind widmen könnten. Die Nonna ist die engste Bezugsperson, aber es fehlt dem Einzelkind die Zuneigung der Eltern. So wächst es in einem Umfeld auf, das ihm zu wenig Rückmeldung gibt, um Selbstgewissheit zu entwickeln.
Rückhalt findet er ersatzweise in einem neofaschistischen Jugendverband, in den er hineinrutscht. Er beginnt zu lesen und entwickelt erstmals im Leben ein genuines Interesse für historische Ereignisse. Er trifft auf Menschen, die ihm das Gefühl geben, sie würden sich um ihn kümmern und er sei ihnen nicht gleichgültig. Schliesslich lockt ausserdem das Verbotene.
Bis zum bitteren Ende
Als er bei einer Prügelei kräftig zuschlägt, merkt er, wie sich Ohnmacht in Macht verwandelt, wie ihn Hass stark und überlegen macht. «Dank dieses Schlags, dieses Tritts, hatte ich eine Freiheit erlebt wie nie zuvor. Eine Machtdemonstration: das Wissen, dass ich anderen wehtun und selbst Schmerzen wegstecken konnte.» Hier kippt Ettores Leben. Selbst da, so merkt er im Rückblick, hätte es noch einen Ausweg gegeben.
Zugleich überkommt ihn noch ganz am Schluss des Romans eine dumpfe Ahnung, der Weg zum bitteren Ende könnte unvermeidlich gewesen sein: «Dass es irgendwie unumgänglich war, diesen Tiefpunkt zu erreichen, glaube ich noch immer. Leider.» Umkehr war ihm erst da möglich.
Davide Coppo hält die Ereignisse in einer schwebenden Unentschiedenheit. Wie er sich ohnehin als Erzähler nur an wenigen Stellen bemerkbar macht, im Übrigen lässt er den Jugendlichen von sich erzählen. Das ist ein tastender Gang durch das Dunkel dieser frühen Jahre, woraus allmählich die Anatomie einer Radikalisierung hervorgeht. Dass die Geschichte ausserdem auch mit Davide Coppos eigenen Erfahrungen zu tun haben könnte, darauf weist der Autor in der Danksagung am Ende seines Buches hin: diskret und doch eindringlich genug. Das macht aus dem Buch eine doppelt bewegende Lektüre.
Davide Coppo: Der Morgen gehört uns. Roman. Aus dem Italienischen von Jan Schönherr. Kjona-Verlag, München 2024. 240 S., Fr. 34.90.