Montag, Januar 13

Ein Argentinier mit dem Spitznamen «El Scarso» rührt für den Liechtensteiner Dorfverein im Internet die Werbetrommel. Nach zwei Wochen hat der FC Balzers mehr Follower als der FC Basel und sieben Bundesligaklubs. Ein Augenschein vor Ort.

Bis vor drei Wochen war der FC Balzers aus Liechtenstein ein normaler Dorfverein, wie er in einer 4700-Einwohner-Gemeinde halt so vorkommt. Er bietet Junioren eine Freizeitbeschäftigung, führt einmal im Jahr eine Tombola durch (bei der letzten war der 1. Preis ein Boxspringbett), und er hat eine Theatergruppe, deren jüngste Produktionen Titel trugen wie «D Tante Jutta vo Kalkutta» oder «Dr Otto gwinnt im Lotto».

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Sicher, der FC Balzers hat in Liechtenstein elf Mal den Cup gewonnen, nur der FC Vaduz war erfolgreicher (50 Titel). Und der einheimische Mario Frick, gegenwärtig Trainer des FC Luzern, startete hier seine Laufbahn als Profi, die ihn bis in die italienische Serie A führte, nachdem er an der gleichen Strasse aufgewachsen war wie Marco Büchel und Markus Foser, die im Ski-Weltcup siegten.

Zudem verbrachte Rudi Brunnenmeier im FC Balzers den Spätherbst der Karriere, der deutsche Nationalspieler, der im Dress von 1860 München Bundesliga-Torschützenkönig (1965) und Meister (1966) wurde und mit dem FC Zürich den Schweizer Cup gewann (1973). Und der seine Treffsicherheit auch bei Kneipenschlägereien bewies.

Aber der FC Balzers ist nicht mehr vom Erfolg verwöhnt. Der letzte Titel im Cup resultierte vor fast 28 Jahren; in der 2. Liga interregional, der fünfthöchsten Schweizer Spielklasse, dümpelt der Klub im Mittelfeld der Tabelle herum – zu seinen Partien erscheinen gut hundert Zuschauer. Zwei seiner Spieler standen überdies für Liechtenstein auf dem Feld, als es im November gegen San Marino, den Letzten der Fifa-Weltrangliste, eine Blamage absetzte.

Doch Ende Dezember ist möglicherweise ein rettender Engel erschienen, der dem Fussball im Fürstentum Leben einhaucht. Zumindest hat er vielen ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert und den FC Balzers so berühmt gemacht, dass dieser vielleicht bald wieder bessere Zeiten erlebt.

Wintersport kannte der Gast nur aus dem Fernsehen

Der potenzielle Heilsbringer ist der 20-jährige Valentin Scarsini, Spitzname «El Scarso». Er stammt aus Argentinien, dem Land des Fussball-Weltmeisters, und ist ein «Digital Creator», der im Internet mit originellen Video-Storys sein Publikum unterhalten will. Je mehr Leute ihm folgen, desto stärker wird er als Marke und desto eher kommt er an Werbepartnerschaften. Scarsini verdient damit den Lebensunterhalt. Auf den Plattformen Tiktok, Instagram und Youtube folgen ihm insgesamt rund 1,2 Millionen Menschen.

Und diesem Scarsini kam eine Idee: Er wollte irgendwo auf der Welt einem Fussballklub, der nur wenige Fans hat, zu einer grösseren Anhängerschaft verhelfen. Also begann er am 28. Dezember, für den FC Balzers die Werbetrommel zu rühren. Am Anfang hatte der Amateurverein auf Instagram gut tausend Follower – zwei Wochen später waren es bereits 420 000. Damit überflügelte er den FC Basel (rund 260 000), die bisherige Nummer 1 im Schweizer Fussball in dieser Statistik, und sieben deutsche Bundesligaklubs.

Zu diesem Zeitpunkt weilte Scarsini bereits in Balzers. Spontan hatte er erstmals im Leben Argentinien verlassen, um sich vor Ort ein Bild von seinem neuen Lieblingsklub zu machen. Spieler des FC Balzers holten ihn am Flughafen Zürich ab und zeigten ihm ihre Heimat. Im Skigebiet Malbun versuchte Scarsini, Schlittschuh zu laufen. Zur Unterstützung nahm er sich einen dieser Plastik-Pinguine, wie sie sonst Kleinkinder brauchen. Bis anhin kannte Scarsini Wintersport nur aus dem Fernsehen.

Der Hype brachte dem FC Balzers auch diplomatische Beziehungen mit Grossklubs ein. Der FC Basel und der HC Davos haben ihn zu Spielbesuchen eingeladen, der mexikanische Erstligaklub León fragte wegen eines Testspiels an, und Profis erkundigten sich nach Probetrainings. Zudem konnte der Amateurverein Merchandising-Artikel in die halbe Welt verschicken.

Um die Wünsche zu bearbeiten, erhielt Sandro Wolfinger, der Captain und Marketingchef des FC Balzers, von seinem Arbeitgeber eine Woche frei. Er tritt auch in einem der Videos von Scarsini auf: Darin zeigt er auf eine Narbe und erzählt, diese habe ihm Cristiano Ronaldo zugefügt, als Liechtenstein gegen Portugal gespielt habe.

An sein Training kommt sogar Liechtensteins Sport- und Aussenministerin – SRF berichtet live

Am vergangenen Freitag dann fand auf dem Sportplatz Rheinau des FC Balzers eine Pressekonferenz mit Scarsini statt. Das Schweizer Fernsehen berichtete in der Sendung «Schweiz aktuell» live. Doch wie kam Scarsini überhaupt auf den FC Balzers? Er antwortet auf Spanisch, eine Dolmetscherin übersetzt.

Scarsini sagt, er habe mithilfe von künstlicher Intelligenz nach einem Verein gesucht, der bei diesem sozialen Experiment seinen Vorstellungen entspreche, und als Vorschlag sei der FC Balzers ausgespuckt worden. Der Klang dieses Namens habe ihm gefallen. Und er glaube, dieser Klub berühre die Herzen der Menschen.

Als ein Journalist mutmasst, dass die Wahl wegen der Vereinsfarben Blau und Gelb auf Balzers gefallen sei, da diese an die Boca Juniors aus Buenos Aires und Maradona erinnerten, stellt Scarsini umgehend klar, dass er Fan des Club Atlético Huracán sei – und dieser spiele in Rot und Weiss.

Fussballerische Verbindungen zwischen Argentinien und Liechtenstein gab es bisher kaum. Ein Chronist berichtet, wie Mario Fricks Grossvater das erste Frauenteam im Land trainiert und dabei Anzug und Krawatte getragen habe, ganz nach dem Vorbild von César Luis Menotti, der Argentinien 1978 zum WM-Titel führte. Aber sonst? Schulterzucken.

Wie schnelllebig das Influencer-Business sein kann, zeigte sich, als Scarsini in einem Interview mit der Zeitung «Liechtensteiner Vaterland» schon nach einer Woche PR-Arbeit für den FC Balzers zum Schluss kam, der Klub habe ihn immer sehr gut behandelt.

An der Pressekonferenz verleiht der Verein Scarsini die Ehrenmitgliedschaft, zum anschliessenden Training mit ihm erscheint sogar Liechtensteins Sport- und Aussenministerin. Als der Schneefall immer stärker wird, zieht sich Scarsini sein Halstuch bis unter die Augen. Seine Fähigkeiten am Ball reichten nicht aus, um sich im FC Balzers einen Stammplatz zu ergattern.

Scarsinis Auftritt weckt Gedanken an Friedrich Dürrenmatts Tragikomödie «Der Besuch der alten Dame». Nur schaut hier keine vermögende Lady vorbei, sondern ein junger Krauskopf mit Nasenring, dessen Kapital wenig greifbar scheint. Auch in seinem Fall stellt sich die Frage, ob der Einfluss eines fremden Gasts das Leben jener verändert, die mit ihm zu tun haben.

Scarsini schwadroniert von Titeln und Pokalen. Doch die Verantwortlichen des FC Balzers machen nicht den Eindruck, als liessen sie sich von Luftschlössern blenden. Sandro Wolfinger sagt, sie würden «diese coole Welle mitreiten», solange es gehe. Der Vereinspräsident Fredy Scherrer sagt, es sei nicht das Ziel, nun den FC Vaduz anzugreifen.

Der Hauptsponsor des FC Balzers ist eines der Kasinos im Fürstentum. Ob diesem durch die unverhoffte Aufmerksamkeit der grosse Jackpot winkt, ist jedoch fraglich. Denn viele neue Follower des Klubs leben in Süd- oder Mittelamerika. Von der Bank, die den FC Balzers unterstützt, heisst es immerhin, dass es seit Scarsinis Coup bereits Anfragen aus Argentinien für eine Kontoeröffnung gegeben habe.

Mitte des letzten Jahrhunderts zeterten in der Region um Balzers vor allem Bauern über die Fussballer. Das seien Faule, die sich vergnügten, anstatt hart zu arbeiten. Wenn die Stänkerer von damals wüssten, wie «El Scarso» sein Geld verdient, würde sich wohl mancher von ihnen im Grab umdrehen.

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