Dienstag, März 18

Geschichte von einem, der sich als Teenager von radikalen Einflüsterern verführen liess.

Ein reumütiger junger Mann steht vor dem Bundesstrafgericht. Nico (Name geändert) versucht dem vorsitzenden Richter zu erklären, wie es dazu kam, dass er während mehrerer Jahre ein glühender Unterstützer der Terrororganisation Islamischer Staat war. Ein junger Schweizer, der Stunden damit zubrachte, in den sozialen Netzwerken für die fanatischen Gotteskrieger zu werben.

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Und der zum Richter sagt: «Ich wollte Anerkennung, ich wollte wahrhaftig sein.»

Es ist die Geschichte von einem, der als Teenager von radikalen Einflüsterern verführt worden ist – und sich in einem Netz aus Terrorpropaganda, Jihad-Träumereien und falschen Freunden verheddert hat. Und der schliesslich auf Schritt und Tritt überwacht wird, bis er sich im Gefängnis von seinen radikalen Überzeugungen abwendet. Endgültig, wie er sagt.

«Ich hatte nichts im Leben»

Nico wird 2002 geboren. Zusammen mit seinen Geschwistern wächst er in einer kleinen Gemeinde in der Ostschweiz auf. Dann trennen sich die Eltern, mit 15 zieht er mit seiner Mutter und seinen Geschwistern nach Winterthur.

Es ist ein Bruch: Der Jugendliche, der schon in seiner Kindheit ausgegrenzt wurde, weil er anders war, findet sich nicht richtig zurecht. In Winterthur hat er Mühe, Anschluss bei den Gleichaltrigen zu finden. Er leidet laut den «CH Media»-Zeitungen an einer Autismus-Spektrum-Störung. Seine Leistungen in der Schule sind zwar gut, doch sein provokatives Verhalten eckt an, die Lehrer sind überfordert. Die Schulleiterin bietet ihm an, er könne aus der Schule austreten, wenn er eine Stelle finde.

Nico erhält ein Praktikum als Auto-Mechatroniker, doch auch bei der Arbeit kommt er nicht klar. Nach vier Monaten bricht er sie wegen psychischer Probleme ab. Sein Psychiater bezeichnet es später als eine Phase der kompletten Verweigerung und des Rückzugs.

Nico sagt: «Ich hatte nichts im Leben, mir ging es schlecht, ich suchte nach Halt und Identität.»

In dieser Phase wendet er sich dem Islam zu. Ein gläubiger Kollege nimmt ihn regelmässig mit in die Moschee. Und ein anderer, mit dem er sich anfreundet, geht mit ihm an die Orte, an denen sich die Anhänger des fundamentalistischen Islams aufhalten. Es klingt gefährlich und verführerisch. Nico sagt: «Sie haben mich aufgenommen, so wie ich bin. Aber richtige Freundschaften waren das nicht. Niemand interessierte sich dafür, wie es mir wirklich ging.»

Nico konvertiert. Gegenüber den Ermittlern sagt er später einmal aus, er habe einen Lebenssinn gefunden, der Glaube habe ihm Halt gegeben. Er findet auch eine Arbeit. Aber nach wenigen Monaten ist wieder Schluss.

Es kommt zum Bruch mit der Mutter. Sie wirft Nico raus. Schliesslich bezahlt ihm das Sozialamt eine kleine Einzimmerwohnung in Winterthur. Da bewegt sich der junge Mann schon tief in den dortigen extremistischen Kreisen. Er trägt lange Kleider, wie sie Salafisten tragen, Weste und Turban.

Eine der tonangebenden Figuren in der Gruppe ist ein junger Mann, der sich selbst Idris nennt. Als 16-jähriger Teenager war er zusammen mit seiner Schwester aus Winterthur losgezogen, um sich der Terrormiliz Islamischer Staat anzuschliessen. Ende 2015 kehrte er zurück, selbst zum Einflüsterer, Rekrutierer und ideologischen Mentor geworden.

Für junge Männer wie Nico.

Zusammen mit anderen jungen Salafisten trifft sich Nico in einem Proberaum im Winterthurer Stadtteil Töss. Dort beten sie, schauen gemeinsam Propagandavideos und streiten über die richtige Glaubensauslegung. Nach einem Streit zwischen der Kaida-Fraktion und den IS-Anhängern spaltet sich die Gruppe.

Nico soll laut den Ermittlern auch an einem klandestin geplanten Treffen teilgenommen haben, bei dem sich mehr als zwei Dutzend radikale Islamisten austauschten.

Auch den Strafverfolgungsbehörden bleiben die Vorgänge nicht verborgen. Sie verwanzen die Räumlichkeiten, beobachten die Islamisten. Nico wird noch als Minderjähriger wegen Verstosses gegen das IS-Gesetz zu einer bedingten Freiheitsstrafe verurteilt.

Doch er macht weiter. Und gerät immer tiefer in den Strudel aus Glauben und Terrorpropaganda.

Einige Zeit ist Nico nach islamischem Recht mit einer jungen Frau aus Niedersachsen verheiratet, gegen die wegen Terrorverdachts ermittelt wird. Im Dezember 2020 verhaftet die Polizei sie in Winterthur und schiebt die Frau nach Deutschland ab. Er bezeichnet sich in dieser Zeit selbst einmal als radikaler Islamist, der an den Sieg des IS glaubt.

Einer, den die Behörden nun genau beobachten.

Und einer, der meint, sein radikaler Salafismus verpflichte ihn dazu, Krieger zu werden. Ein Krieger, der in letzter Konsequenz auch bereit sein müsse, für die Terrormiliz in den Tod zu gehen.

Auf seinem Smartphone schaut er sich blutrünstige Videos von Erschiessungen und Enthauptungen an. «Es war der ultimative Kick, ich war wie ein Junkie auf der Suche nach dem nächsten High.» Er habe sich immer vorzustellen versucht, wie es als Soldat für den IS wäre. «Bin ich bereit dazu?», fragte er sich.

Wer ist eine Gefahr? Und wer bloss ein Angeber?

Bei Nico und den anderen Schweizer IS-Anhängern stellt sich für die Behörden immer eine Frage: Wer ist eine Gefahr? Und wer bloss ein radikaler Angeber? Die Behörden fürchten, jene Fanatiker zu übersehen, die nicht nur reden, sondern am Ende zur Tat schreiten. Diejenigen, die den Schritt machen vom Angeber zum Attentäter.

Im Dezember 2021 versucht Nico ein erstes Mal, nach Syrien zu reisen. Von einem IS-Vertrauensmann hat er zuvor eine sogenannte «tazkyia» erhalten, eine Erklärung seiner Vertrauenswürdigkeit. Doch er kommt nur bis in die Türkei. Am Flughafen fangen die Behörden den jungen Mann, der nur mit Rucksack, Kapuzenpullover, Cargohosen und Stirnlampe reist, ab und schicken ihn zurück in die Schweiz.

Nico sagt: «Ich war froh, es einmal versucht zu haben. Es war wie eine Rechtfertigung. Ich hatte es versucht, es hat aber nicht geklappt. Und das war nicht meine Schuld.»

Von da an überwachen ihn die Schweizer Behörden minuziös, die Wohnung wird verwanzt, eine Kamera vor der Wohnung zeichnet jede Bewegung auf. Die Ermittler bekommen deshalb alles mit, was sich bei dem jungen Mann zu Hause abspielt. Wenn Nico mit seinem Smartphone telefoniert, wenn seine radikalen Glaubensbrüder zu Besuch sind, sogar wenn er Selbstgespräche führt, Essen kocht oder schläft: Die Beschatter protokollieren es.

Ihnen fällt Mauro (Name geändert) auf, ein heute 29-jähriger Islamist, der auch den Terroristen kannte, der am 2. November 2020 in der Innenstadt von Wien minutenlang wahllos auf Passanten schoss und vier von ihnen tötete. Und der nun zusammen mit Nico vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona steht. Und ihnen fällt auch der Besuch eines älteren Mannes mit schütterem Haar auf, der Anfang 2022 einen Monat lang bei Nico in Winterthur lebt.

Der Mann heisst Aleem N. Einst galt der 60-jährige Deutsch-Pakistaner als Top-Terrorist mit Kontakten zu den führenden Köpfen der Kaida in Europa. Und als einer der wichtigsten Financiers der Kaida in Deutschland. Deutsche Medien bezeichneten ihn schon als «Spinne im Netz» und «graue Eminenz». Mehrere Jahre sass N. im Gefängnis.

Die drei Männer sind an der Propagandafront aktiv. Sie übersetzen Texte und Audiobotschaften des IS, um diese auf dem Telegram-Messenger zu veröffentlichen. Nico nennt seinen Kanal «News Deutsch», N. betitelt seinen mit «Allah-1443».

In den abgehörten Gesprächen verhöhnen sie auch Muslime, die ihnen nicht radikal genug sind. Nico sagt einmal in einem abgehörten Gespräch zu Aleem N.: «All diese Salafisten, sie ziehen die Hose hoch, haben schöne Bärte. Aber sobald es um den Jihad geht, sagen sie Nein.»

Der alternde Islamist und Nico sprechen immer wieder von Reisen. Aleem N. hat schon lange ein Ziel: Syrien. Nico sagt, es sei bloss noch Geschwätz gewesen, konkrete Pläne habe es nicht mehr gegeben. Doch die Behörden sehen es anders: Am 13. Juni 2022 schlagen sie zu und verhaften die Männer.

Eine radikale Abkehr von radikalen Überzeugungen

Fast zwei Jahre lang sitzt Nico in Untersuchungshaft. Erst Ende Mai 2024 kommt er heraus aus dem Gefängnis – unter Auflagen. Und er hat grosse Zweifel an seinen bisherigen Überzeugungen. Zweifel, die er bereits in der Untersuchungshaft hatte. Als er herauskommt, kann er bei seiner Mutter einziehen. Und er verliebt sich, in eine Kollegin seiner Schwester.

Die beiden werden ein Paar. Es ist wie ein Katalysator für Nicos Abkehr von der Terrormiliz. So erzählt es der junge Mann.

In den ersten Monaten nach seiner Freilassung betet er noch, doch irgendwann hört er auf. Er sagt: «Es hat mich immer mehr gestresst, beten zu gehen. Ich konnte es nicht mehr mit meinem Leben vereinbaren. Und irgendwann habe ich auch keinen Sinn mehr darin gesehen.»

Er holt sich Hilfe bei einem auf Deradikalisierung spezialisierten Sozialarbeiter, der ihm den Ausstieg erleichtern soll. Vor dem Bundesstrafgericht führt der Experte am Montag aus, Nico habe eine sehr gute Entwicklung durchgemacht. Er habe sich inzwischen von der extremistisch-gewaltverherrlichenden Ideologie losgesagt. «Er bewegt sich im Kontext des demokratischen Meinungspluralismus. Ich halte die Gefahr für eine erneute Radikalisierung für sehr gering.»

Inzwischen hat er einen Teilzeitjob in einer sozialen Institution und sagt, dass er endlich eine Berufslehre absolvieren wolle.

Nico sagt: «Ich habe mein Leben verbockt. In den Augen der Behörden bin ich eine Gefahr, ich kann nicht mehr ins Ausland reisen, und es ist schwierig, eine Stelle zu finden.»

Und er hat eine grosse Sorge: nochmals ins Gefängnis zu müssen. Denn da ist der Prozess am Bundesstrafgericht in Bellinzona. Und die Anklage der Bundesanwaltschaft.

In den Augen des Staatsanwalts des Bundes war Nico weit mehr als ein Unterstützer der Terrormiliz. Die Bundesanwaltschaft wirft ihm und Mauro vor, sie seien Mitglieder beim Islamischen Staat gewesen. Noch am Tag seiner Verhaftung sei Nico vom IS sogar zum Anführer einer Kompanie ernannt worden – etwas, das der 22-jährige Schweizer in Abrede stellt. Er sei bloss ein Unterstützer gewesen.

Der Staatsanwalt des Bundes hingegen sagt, Nico habe sich als eifriger Propagandist der Terrormiliz erwiesen. Der digitale Kampf sei ein zentraler Bestandteil für den IS. Und Nico und seinem Compagnon sei es gelungen, in den engeren Zirkel vorzustossen. Es sei wie eine Auszeichnung gewesen, sagt der Staatsanwalt.

Dafür fordert er harte Strafen: 67 Monate Freiheitsstrafe bei Nico und 56 Monate sowie den Widerruf einer früheren Strafe bei Mauro.

Der Staatsanwalt sagt: «Wir haben es mit dem Fall von zwei jungen Schweizer Konvertiten zu tun. Sie liessen sich nicht einmal von geharnischten Interventionen der Sicherheitsbehörden davon abhalten, ihre Leben für eine barbarische Terroristenbande zu opfern.»

Sie hätten ihre klandestine Ausreise nach Syrien geplant, um sich der Terrormiliz anzuschliessen. Nico habe mit dem westlichen Diesseits abgeschlossen. Der Staatsanwalt des Bundes wirft ihm und seinem Compagnon Mauro weiter vor, dass sie Spenden gesammelt und damit an Billettautomaten der SBB Bitcoin im Wert von fast 13 000 Franken gekauft hätten.

Diese seien dann an verschiedene Zieladressen überwiesen worden. Bei den Empfängern handelt es sich laut Anklage mehrheitlich um Personen und Organisationen aus dem IS-Milieu. Die Bundesanwaltschaft vermutet, dass die Gelder dafür verwendet worden seien, in Syrien gefangengehaltene IS-Mitglieder zu befreien.

Vor dem Bundesstrafgericht sagt Nico, er strebe eine Ausbildung als Auto-Mechatroniker an und wolle sich wieder in der Gesellschaft eingliedern. Wie rasch er diesen Plan umsetzen kann, muss nun das Bundesstrafgericht entscheiden. Die Urteilseröffnung hat es für den 24. März anberaumt.

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