Montag, Oktober 7

Der Mercedes-Teamchef Toto Wolff hat mit Kimi Antonelli einen vielversprechenden Schützling aufgebaut. In Monza gibt der Italiener seinen Einstand – im Training.

Als ob es nicht schon genug Druck wäre, die Zukunftshoffnung eines Konzernteams zu sein: Für Andrea Kimi Antonelli, am Sonntag erst 18 Jahre alt geworden, steigt die Erwartungshaltung vor dem Grossen Preis von Italien fast ins Unermessliche. Der Rennfahrer aus der Nachwuchsliga Formel 2 wird erstmals in einem Formel-1-Rennwagen sitzen und darf das erste Training zum 16. Saisonrennen auch noch vor eigenem Publikum in einem Silberpfeil absolvieren. Die italienischen Fans warten seit zwanzig Jahren auf einen Champion in den Farben der Tricolore; alle vier Landsleute, die in diesem Jahrtausend in die Königsklasse aufgestiegen sind, haben es nie aufs Podest geschafft.

Und nun kommt da ein Kronprinz, der alle Meisterschaften gewonnen hat, seit er vom Renn-Kart auf grössere Rennwagen umgestiegen ist. Einer, der als Bester der Formula Regional gleich die Formel 3 als nächsthöhere Klasse übersprungen hat und nun von der Formel 2 einmal mehr ruckartig befördert werden soll. Lewis Hamilton wird im kommenden Jahr zu Ferrari wechseln, im Gegenzug soll der Italiener Antonelli den Job des Rekordweltmeisters übernehmen. «Er ist mein bestmöglicher Nachfolger», sagt Hamilton.

Toto Wolff setzt alles auf die Karte Antonelli

Der Mercedes-Teamchef Toto Wolff, einer der kühlsten Rechner im Renngeschäft, scheint regelrecht vernarrt in den italienischen Nachwuchspiloten. Für den Österreicher ist die Förderung des Wunderkindes auch ein ganz persönliches Projekt, nach all den Titeln nun selbst noch einen Champion grosszuziehen. So wie es McLaren mit Lewis Hamilton getan hat und Red Bull mit Sebastian Vettel und Max Verstappen.

Die Talentspäher von Mercedes waren früh auf den Lockenkopf aus Bologna aufmerksam geworden, seit nunmehr sechs Jahren betreuen sie ihn. Das gehört zum Optionsscheinhandel der Formel 1. Für Wolff geht es auch darum, dass ihm nicht noch einmal ein Jahrhundertfahrer entgeht, obwohl er als Erster mit ihm verhandelt hat. Das war ihm einst mit Max Verstappen passiert. Weil Wolff dem Niederländer vor zehn Jahren im Gegensatz zu Red Bull kein Cockpit anbieten konnte, musste er den inzwischen dreifachen Weltmeister ziehen lassen. So etwas, schwor sich der Wiener, würde ihm nicht wieder passieren.

Alles auf die Karte A zu setzen, obwohl von Fernando Alonso bis Carlos Sainz junior viele gestandene Piloten Hamiltons Mercedes-Sitz für 2025 wollten, ist eine Art Trotzreaktion darauf, dass Mercedes den Weltmeister Verstappen frühestens in der übernächsten Saison verpflichten kann. «Es wird aufregend werden für Kimi in Monza», sagt Wolff, «aber ich bin mir sicher, dass er es geniessen wird.» Mercedes spricht von einem klaren Bekenntnis zur Jugend und zur Zukunft.

Toto Wolff ist wie ein Übervater für Kimi Antonelli, der seinen finnischen Vornamen ja nicht ohne Grund bekommen hat – der leibliche Vater ist sehr motorsportaffin, hält sich aber aus der Karriere seines Sohnes weitgehend heraus. Mercedes plant den Aufstieg der Nachwuchshoffnung generalstabsmässig. Zehn Testtage in einem zwei Jahre alten Formel-1-Rennwagen hat die Zukunftshoffnung bereits absolvieren dürfen in dieser Saison – das entspricht einem Investment von drei bis vier Millionen Dollar.

Antonelli fährt die Formel-2-Meisterschaft zu Ende – und sitzt erst danach im Mercedes-Cockpit

Als nun ein Cockpit für den Rest der Saison beim Mercedes-Kunden Williams frei wurde, schien ein noch schnellerer Aufstieg Antonellis möglich. Doch Wolff entschied sich gegen den Zufall und bleibt bei der Ausbildungsstrategie: Antonelli soll die Formel-2-Meisterschaft zu Ende fahren – und danach in den Silberpfeil springen. Im Williams-Cockpit sitzt ab dem Rennen von Monza der 21-jährige Argentinier Franco Colapinto, der als Gesamtsechster in der Formel 2 einen Platz vor Antonelli rangiert.

Nach all den Vorschusslorbeeren hat Antonelli in der zweithöchsten Rennklasse Demut lernen müssen. Er hat vierzehn Rennen ohne Podestplatz und sieben Nullnummern hinter sich. Das lag nicht an ihm, sondern an der technischen Krise des Prema-Rennstalls. Antonellis britischer Teamkollege Oliver Bearman litt noch stärker, wird aber als Ferrari-Schützling in der kommenden Saison zum Formel-1-Team Haas transferiert.

Der Blick auf den Nebenmann erhöhte die Sorgen Antonellis noch. Als er ausgerechnet beim Mercedes-Heimspiel in Silverstone wieder einmal das Qualifying verbockte, rief er in seiner Verzweiflung Toto Wolff an. Der ging mit dem Juniorpiloten spazieren, und Antonelli gewann im Anschluss das Sprintrennen. «In schwierigen Momenten schafft es Toto immer, mir neues Selbstvertrauen zu geben», sagt Antonelli.

Allzu häufig mag der Kinderstar des Motorsports das Sorgentelefon nicht strapazieren. Zumal zum guten Ruf des Auserwählten auch die ungeheure Gelassenheit gehört. Antonelli scheint ein geborener Analytiker zu sein, überrascht die Ingenieure mit so präzisen Aussagen über das Fahrzeugverhalten, als täte er schon seit Jahrzehnten nichts anderes, als Rennen zu fahren. Zudem hat er ein höchst erstaunliches numerisches Gedächtnis. In den Briefings machen sich die Techniker einen Spass daraus, Antonelli nach Rundenzeiten aus Rennen zu fragen, die Jahre zurückliegen. Bisher hat er seine Equipe beim Zahlenspiel nie enttäuscht.

«Für mich ist es ein Traum», sagt Andrea Kimi Antonelli über seine Perspektive in der Formel 1. Natürlich fahre da immer auch ein wenig die Sorge mit, nicht in der Lage zu sein, die nötige Leistung zu bringen. Doch mögliche Zweifel wischt er gleich wieder weg: «Ich sehe es als grosse Chance, zu lernen und zu wachsen. Ich habe keine Angst davor, beurteilt zu werden, denn ich weiss, dass Mercedes eine klare Meinung über mein Potenzial hat.»

Von der Zielstrebigkeit und dem Auftritt her erinnert Andrea Kimi Antonelli nicht bloss an Max Verstappen, sondern vor allem an sein Idol Ayrton Senna. Bei ihm scheint schon jetzt nur der ganz grosse Massstab gross genug zu sein.

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