Donnerstag, Oktober 3

Im Südosten des Landes ist ein kleines Mädchen vermutlich von seinen Angehörigen getötet worden. Für Regierungsgegner wirft die Bluttat auch ein Schlaglicht auf die Familienpolitik in Erdogans Türkei.

Wer in der Türkei Nachrichten schaut oder liest, kommt dieser Tage an dem Bild des unschuldig lächelnden Mädchens im rosa Pullover nicht vorbei. Das Schicksal der kleinen Narin Güran, die vor drei Wochen nach dem Koranunterricht in ihrem Heimatdorf in der Südosttürkei verschwand und mit grossem Aufwand gesucht wurde, hält das Land in Atem.

Erst recht gilt das, seitdem am Sonntag der Leichnam des achtjährigen Kindes gefunden wurde. Frauenorganisationen und oppositionelle Parteien riefen in mehreren Städten des Landes zu Protestkundgebungen auf. Die vielen offenen Fragen zum Verbrechen, aber auch das Milieu und der Zusammenhang, in dem es verübt wurde, verleihen dem Ereignis in den Augen von Regierungsgegnern eine Bedeutung über den schauerlichen Einzelfall hinaus.

Spekulationen über Vertuschungen

Narins lebloser Körper steckte in einem Sack, der nur wenige Kilometer von ihrem Heimatdorf entfernt in einem Flussbett lag. Ein Mann gestand am Montag, den Sack im Auftrag des Onkels des Todesopfers an die Fundstelle gebracht zu haben. Bereits vergangene Woche hatte die Polizei den Onkel, die Eltern und andere Personen aus der weiteren Familie des Mädchens festgenommen. Der Onkel gilt als dringend tatverdächtig.

Allerdings sollen die lokalen Ermittlungsbehörden anfänglich dem nächsten Umfeld des Opfers keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt haben, obwohl dies unter den gegebenen Umständen dem Standardverfahren entspräche. Der Onkel, der auch Ortsvorsteher des kleinen Dorfes ist, und sein Mitarbeiter, der den Leichnam entsorgte, sollen sogar an der Suchaktion teilgenommen und die Helfer in die Irre geführt haben.

Auch andere Umstände werfen Fragen auf. Die Behörden verfügten nach einigen Tagen ein Verbot, über den Fall zu berichten. Erst mit dem Auffinden des Leichnams wurde dieses aufgehoben. Hohe Wellen schlug die Äusserung eines lokalen Abgeordneten der Regierungspartei AKP: «Manchmal gibt es Dinge, die wir nicht wissen, und manchmal gibt es Dinge, die wir wissen, über die wir aber nicht sprechen sollten. Wir sind Freunde der Familie.»

Der Abgeordnete erklärte später, das Zitat sei aus dem Zusammenhang gerissen worden. Dennoch verlieh seine Äusserung den ohnehin schon kursierenden Spekulationen über eine mögliche Vertuschung Auftrieb. Dasselbe gilt für die – durchaus plausible – Ankündigung des forensischen Labors, wegen der fortgeschrittenen Verwesung könne die genaue Todesursache frühestens in zwei Wochen festgestellt werden. Belegen lassen sich die Vertuschungsvorwürfe allerdings nicht.

Kritik an konservativer Familienpolitik

Tiefer geht die Kritik von Frauenrechtsorganisationen, die auf familienpolitische Weichenstellungen von Erdogans islamisch-konservativer Regierung hinweisen. Prominentestes Beispiel ist der 2021 erfolgte Austritt aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauenrechten, die angeblich westliche Werte vertritt.

Das ständig betonte Ideal einer traditionellen Familienordnung verstelle den Blick auf familiäre Missstände und deren Opfer, Frauen und Kinder, kritisierten Anhängerinnen einer feministischen Plattform in Istanbul. Häusliche Gewalt ist in der Türkei ein grosses Problem. In der ersten Hälfte dieses Jahres sind laut einer Kinderrechtsorganisation in der Türkei 343 Kinder unter vermeidbaren Umständen ums Leben gekommen, 23 von ihnen durch direkte Gewalt.

Die Regierung wirft ihren Gegnern vor, den Tod des Mädchens zu politisieren. Gänzlich ignorieren kann sie die Kritik aber nicht. Präsident Erdogan erklärte am Montag, er werde den Gerichtsprozess persönlich verfolgen.

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