Freitag, Oktober 4

Der Zürcher Matthias Appenzeller gehört zu den besten Klippenspringern Europas. Seit einem Unfall ist nichts mehr, wie es war. Der Anwalt wünscht sich mehr Offenheit im Umgang mit mentalen Problemen.

Matthias Appenzeller steht auf der 10-Meter-Plattform und springt ab. Er übt für seinen neuen Paradesprung aus 27 Metern, seinen schwierigsten, der ihn kurz davor in die Top 15 der Welt katapultiert hatte: ein Dreifachsalto vorwärts mit dreieinhalb Schrauben. Als er sich nach den Rotationen öffnet, schlägt er mit den Füssen an einer Metallplattform an, die in der «Area 47» im Ötztal unterhalb der Sprungplattform angebracht ist.

Was an diesem Augusttag im vergangenen Jahr das Problem war, weiss Matthias Appenzeller bis heute nicht. Ein Sekundenbruchteil Verzögerung beim Timing vielleicht. Ein paar Zentimeter Abweichung beim Absprung. Klar ist nur, dass seine Sportkarriere in diesen Sekunden eine Wende genommen hat.

Die blutende Schnittwunde am Fuss ist nicht das Problem. Appenzeller wickelt Tape um die Wunde und springt weiter. Spitzen-Turmspringer sind so etwas gewohnt, unbedingte mentale Stärke gehört zum Profil. Raum für Zweifel bleibt keiner. Appenzeller hat sich als Kind schon den Kopf am Brett angeschlagen, den Fuss gebrochen, ist beim Federn heftig abgerutscht. Nichts hat ihn aus der Bahn geworfen.

Doch diesmal ist etwas anders. Abends im Bett hat Appenzeller nicht wie gewöhnlich seinen Ruhepuls zwischen 40 und 50, sondern einen Puls wie nach einem Intervalltraining. Er hat das Gefühl, er könne nicht mehr atmen, nicht mehr schlucken, liegt wie erstarrt da. Berührungen erträgt er nicht. Er sagt: «Ich fühlte mich ohnmächtig.» Es ist erst der Anfang eines Jahres mit Panikattacken, Angststörungen und mentalen Blockaden. Er schwankt zwischen Verbesserungen und Rückfällen.

Gleichzeitig das Anwaltspatent und Spitzensport

Ohnmacht ist ein Gefühl, das der 30-jährige Appenzeller vor seinem Unfall nicht kannte. Er war sein Leben lang Spitzensportler, wollte sich als junger Athlet als Turmspringer für die Olympischen Spiele qualifizieren. Als dies nicht klappte, studierte er Jura, er ist mittlerweile Assistenz-Staatsanwalt. Bis zu 60 Stunden Arbeit pro Woche, daneben 2 bis 3 Stunden Training täglich, das war die Normalität. «Ich setzte mich immer überall grossem Druck aus, habe das irgendwie gebraucht», sagt er.

Nach einer Pause im Wasserspringen zugunsten des Studiums entdeckt er die Königsdisziplin, das Klippenspringen oder High Diving aus 27 Metern. In dieser Welt ist alles extremer. Die Gefahr und der Druck, aber auch das Glücksgefühl. Von den rund 20 Schweizer Klippenspringern steigt nicht einmal eine Handvoll auf den 27-Meter-Turm. Jene, die es tun, kommen nicht mehr davon los. «Das Bedürfnis, immer besser zu werden und weiter zu gehen, kann einem zu Kopf steigen», sagt Appenzeller, der es lange geniesst, Teil dieses Mythos zu sein und mit dem Tross um die Welt zu ziehen. «Wenn es gut läuft, ist es im Leistungssport einfach, sich zu verlieren.»

Seit Hunderten von Jahren springen Menschen aus grosser Höhe ins Meer, in Kaunolu auf Hawaii oder in Acapulco, Mexiko. 1996 wurde die World High Diving Federation gegründet, die sich aber bald darauf mit einem Sponsor überwarf. Dieser machte aus der Sportart ein Geschäft und brachte sie von abgelegenen Klippen hin zu den Leuten: Seit 2009 tourt die Cliff Diving World Series von Red Bull durch die Welt. Der Konzern, der berüchtigt ist für seine spektakulären und teilweise grenzwertigen Sportevents, baut seine Sprungplattform an optisch wirkungsvollen Orten auf.

Mittlerweile hat auch der internationale Schwimmverband die 27 Meter als Kategorie High Diving eingeführt, es gibt einen Weltcup, Weltmeisterschaften und das Ziel, olympisch zu werden.

Matthias Appenzeller sagt, ab 20 Metern sei jeder zusätzliche Meter ein Riesenschritt, das Verletzungsrisiko steige stark an. Aus 27 Metern Höhe treffen die Springer mit 85 km/h aufs Wasser. Mehr als drei oder vier Sprünge am Tag kann der Körper nicht verarbeiten, und auch dann «fühlt man sich wie von einer Dampfwalze überrollt».

Das kommt fast ausschliesslich an den Wettkämpfen vor, denn trainieren kann man die Sprünge aus 27 Metern kaum. Es gibt bloss drei permanente Anlagen auf der Welt, in Österreich in Tirol, wo Appenzellers Unfall passiert ist, in Fort Lauderdale, Florida, und eine in China.

Zweitausend Mal visioniert er einen Sprung

Die Athletinnen und Athleten üben die Sprünge deshalb zweigeteilt vom 10-Meter: einerseits die Rotationen, anderseits die Vorbereitung auf die Landung. So entstand auch die merkwürdige Höhe von 27 Metern: Für die damals besten Springer der Welt ergab diese Zahl am meisten Sinn.

Neben dem physischen Training visualisieren sie die Sprünge hundert Mal, tausend Mal, zweitausend Mal. Es ist eine akribische Arbeit, ein Feilen an Perfektion. Passte bei Appenzeller einmal etwas nicht, ging er mit dem Kopf durch die Wand: verdrängen und durchziehen, «irgendwie ging es dann schon».

Auch nach seinem Unfall im August 2023 springt Appenzeller weiter. Bei manchen Sprüngen fühlt er sich wohl, manchmal werden die Panikattacken wieder schlimmer. Er setzt sich unter Druck, der Angst keinen Raum zu geben, wodurch diese noch zunimmt. Appenzeller sagt über diese Zeit: «Immer einfachere Übungen erschienen mir fast unmöglich. Die Zweifel, die damit verbunden waren, liessen die Aufgaben immer schwieriger erscheinen.»

Weil er in diesen Momenten das Gefühl hat, als Leistungssportler gescheitert zu sein, setzt er sich in anderen Bereichen des Lebens noch mehr unter Druck. Bis alles implodiert.

Die Panikattacken tauchen auch in der Freizeit auf: vor einem Golfschlag, bevor er im Krafttraining ein Gewicht hebt. Die Arbeit mit einem Sportpsychiater hilft, löst aber das Problem auf dem Sprungturm nicht. Oft geht er ins Hallenbad, nur um wieder umzukehren.

Nach einer längeren Pause vom Turmspringen im Winter und einer leichten Besserung entschliesst sich Appenzeller, im Februar 2024 an der WM teilzunehmen. Im Training gelingt ihm sogar der Sprung, der alles ausgelöst hatte. Doch am Wettkampftag geht beim Vorbereitungssprung gar nichts mehr. «Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, in der Luft machtlos zu sein», sagt Appenzeller. Danach gelingen ihm nur noch einfache Sprünge, er zieht sich von den Weltmeisterschaften zurück.

Es ist ein schwieriger Schritt für den Spitzenathleten, der sein Leben lang gelernt hat, keine Schwäche zu zeigen. Zuerst spricht er vor Ort darüber, die Leute gratulieren ihm zu dem Entscheid abzubrechen. Doch der Druck in der Szene ist riesig. Während in den Weltcups viele Athleten starten können, gibt es bei der lukrativen Red-Bull-Serie bloss je 12 Startplätze für die Männer und die Frauen. Je 8 Plätze davon sind fix an die Weltbesten vergeben, um die restlichen 4 buhlen gegen 3o Springer. «Man macht nicht gerade Werbung für sich, wenn man sagt, man habe solche mentalen Probleme, dass man einen Sprung nicht mehr machen könne», sagt Appenzeller.

Wie Athletinnen und Athleten auf psychische Herausforderungen reagieren, ist so individuell, dass es schwierig ist, von der Erfahrung anderer zu profitieren. Dennoch würde sich Appenzeller eine offene Diskussion wünschen, wie man mit Blockaden besser umgehen kann. Dass vor Ort bei den Events nicht nur medizinisches Personal vorhanden wäre, sondern auch eine mentale Unterstützung, eine Art Bindeglied zwischen betroffenem Athleten und Organisation.

Video-Call mit Orlando Duque. Der Kolumbianer ist Sportdirektor von Red Bull Cliff Diving und einer der berühmtesten früheren Klippenspringer. Er glaubt nicht, dass eine Betreuungsperson an den drei Tagen vor Ort die Lösung wäre. Diese Person müsste die mehreren Dutzend Springer kennen, ihre Vorgeschichten und gegenwärtigen Probleme, das sei unmöglich.

Er sagt aber auch, dass das Thema der mentalen Probleme viel öfter aufkomme als früher und er allen Betroffenen empfehle, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. «Vor 20 Jahren sahen wir uns alle als verrückt und stark.» Schwächen wurden keine gezeigt. Das soll bei der nächsten Generation anders sein. Bei der Red Bull High School, einem Trainingslager für die grössten Talente, seien die mentalen Aspekte heute ein wichtiger Teil des Programms.

«Ich wusste plötzlich nicht mehr, wo ich bin»

Es gibt in der Klippenspringer-Szene durchaus Athleten, die wie Appenzeller offen reden. Den Mexikaner Jonathan Paredes etwa. Im Podcast «Pathway to Change» erzählt er, wie er bei einem Sprung aus 27 Metern die Kontrolle verloren hat. «Ich wusste plötzlich nicht mehr, wo ich bin.» Er landete auf dem Rücken, kam aber mit Prellungen davon. Doch mental war er lange Zeit blockiert.

Den Menschen, die nicht wissen, wie sich dieser Zustand auf der Plattform anfühlt, erklärt er es so: «Es ist, wie wenn man nachts aufwacht und aufs WC laufen will. Ich kenne jeden Schritt dahin, aber weiss nicht, wie ich anfangen muss.» Mittlerweile hat er den Sprung wieder gemacht, doch die Angst vor einem neuerlichen Blackout begleitet ihn.

Matthias Appenzeller weiss noch nicht genau, wohin ihn sein sportlicher Weg führen wird. Seit September arbeitet er bei der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl und nimmt sich vor, mehr auf sich zu hören, nicht alle Dinge zu verbissen anzugehen.

Er hat Strategien gelernt, wie er bei einer Angstattacke reagieren soll. Und vor allem, dass ein Ankämpfen dagegen nichts bringt. «Ich muss akzeptieren, dass es ein Teil von mir ist», sagt er. Und er geht auch einmal vom Training nach Hause, wenn es an diesem Tag nicht funktioniert.

Im Juli hat er auf den Felsen von Ponte Brolla im Tessin im Beisein seiner Freunde und seiner Familie erstmals wieder Freude bei einem Sprung empfunden. Dass selbst Leistungssport Spass machen sollte, versucht er sich immer wieder in Erinnerung zu rufen. «Doch es ist ein täglicher Kampf, sich nicht von negativen Emotionen übermannen zu lassen und sich auf die eigenen Fähigkeiten zu besinnen.»

Er hat sich lange überlegt, ob er über seine Erlebnisse öffentlich reden will. Doch mittlerweile beschäftigt ihn nicht nur sein Fall, sondern er hofft, das Tabu weiter aufzuweichen, nicht über seine Schwächen zu reden. «Wenn ich jemandem helfen kann, wäre das wunderschön.»

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