Sonntag, Februar 23

Ein Gespräch mit dem Ökonomen Andrei Jakowlew über wachsende Spannungen in Russland, die schwindende Finanzkraft des Kremls – und darüber, wie Putin reagiert.

Herr Jakowlew, am 24. Februar 2022 ist Russland in die Ukraine einmarschiert. Trotz drei Jahren Krieg hält sich die russische Wirtschaft erstaunlich stabil. Wird sie an einem gewissen Punkt zusammenbrechen?

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Besonders zu Beginn des Krieges prognostizierten viele Beobachter wegen der internationalen Sanktionen einen schnellen Kollaps der Wirtschaft. Auch russische Experten, selbst in der Regierung, erwarteten schlimme Konsequenzen. Das ist nicht passiert, die russische Wirtschaft hat sich viel besser geschlagen. Dies vor allem, weil sich Länder wie China, Indien und die Türkei nicht an den Sanktionen beteiligten.

Könnte es noch zu einem Kollaps kommen?

Ja, ein Kollaps der russischen Wirtschaft ist möglich. Schon jetzt geht es ihr nicht gut. Sie mag gut aussehen, wenn man offizielle Zahlen zum Wirtschaftswachstum oder zu den Realeinkommen anschaut. Aber angesichts der hohen Leitzinsen, der wachsenden Inflation und des ansteigenden Haushaltsdefizits lässt sich nicht von Stabilität reden. Selbst das Wirtschaftswachstum ist sehr ungleich verteilt, weil es sich auf die Rüstungsbranche und verwandte Sektoren konzentriert.

Wann würde ein Zusammenbruch erfolgen?

Das hängt von den finanziellen Möglichkeiten des Staates ab. Ein Grund für die lange Zeit anhaltende Stabilität waren die hohen zusätzlichen Einnahmen durch den Erdölexport. Der Ölpreis ist im Jahr 2022 stark gestiegen, und das Embargo auf russische Öllieferungen nach Europa wurde erst im Dezember 2022 verhängt. Aber es hängt auch davon ab, wie gut die Regierung und die Zentralbank die Lage bewältigen. Dank den Reserven, die über zwei Jahrzehnte angehäuft wurden, konnte der Kreml lange Zeit nicht nur den Krieg finanzieren, sondern auch alle Sozialverpflichtungen bezahlen. Das ist seit Herbst 2024 vorbei.

Dem Kreml geht das Geld aus?

Er muss Prioritäten setzen. Zum ersten Mal während Wladimir Putins Herrschaft sinken im Jahr 2025 die Sozialausgaben. Gleichzeitig werden die Militärausgaben weiter erhöht. 2025 sind es im Haushalt 25 Prozent mehr, nach einem Plus von 70 Prozent im Jahr 2024. Die wahren Ausgaben sind noch höher. Die Finanzierung der Rüstung entwickelt sich zunehmend zu einem schwarzen Loch, das der Wirtschaftsblock der Regierung nicht kontrollieren kann.

Die Sanktionen gegen Russland waren die härtesten Strafen, die der Westen je gegen eine Volkswirtschaft dieser Grösse erlassen hat. Waren sie wirkungslos?

Die Sanktionen gegen den Export westlicher Technologien sind wichtig. Aber Europa und die USA haben die Fähigkeit Chinas unterschätzt, als Lieferant in die Bresche zu springen. Jedes russische Unternehmen befürchtete nach Kriegsbeginn Versorgungsprobleme bei Komponenten. Aber schon im Sommer 2022 hatte sich das Problem oftmals gelöst. Ausserdem lieferten viele westliche Firmen weiter, nur indirekt über Mittelsmänner wie in der Türkei. Erst sekundäre Sanktionen der USA, die 2024 gegen Firmen und Banken in der Türkei, China und Asien verhängt wurden, haben etwas Wirkung gezeigt. Sie haben den Import viel teurer gemacht.

In Ihrer Forschung argumentieren Sie, die russische Volkswirtschaft habe gut auf die Kriegsprobleme reagieren können, weil sie eine Marktwirtschaft sei.

Trotz der Rivalität zwischen den Magnaten und der obersten Verwaltung gab es nach der Jahrhundertwende eine kluge, marktorientierte Wirtschaftspolitik. Sie erlaubte das Entstehen Tausender kleiner und mittlerer Unternehmen in vielen Branchen und Landesteilen. Später haben die Magnaten ihre Macht an die «Silowiki» verloren, die Vertreter des Sicherheitsapparats rund um Putin. Aber die Firmen und ihr Wissen waren noch da. Verglichen mit dem Ende der Sowjetunion war die Wirtschaft viel stabiler und vor allem flexibler.

Sie sprechen von einer «speziellen psychologischen Einstellung» russischer Unternehmer.

Russische Firmen haben grosse Erfahrung im Umgang mit Krisen. Nicht nur durch die Finanzkrise von 2008 und die Covid-Pandemie, sondern auch durch die Krise nach der Annexion der Krim und der Militärintervention im Donbass im Jahr 2014. Sie waren besser vorbereitet, zum Beispiel, indem sie aus Vorsicht grössere Lagerbestände hielten, als westliche Firmen es tun würden. Das war weniger effizient, aber es gab ihnen nach Kriegsbeginn mehr Spielraum.

Nach Kriegsbeginn brauchte die Rüstungsindustrie mehr Arbeiter und erhöhte die Löhne. Zivile Betriebe zogen nach, um ihre Angestellten nicht zu verlieren. Geht es dem durchschnittlichen Russen heute besser als vor dem Krieg?

Die Durchschnittszahlen sind besser, auch inflationsbereinigt. Aber das ist wie die Durchschnittstemperatur der Patienten in einem Spital, nämlich nicht sehr aussagekräftig. Die Realeinkommen stiegen 2023 um 5,4 Prozent und um 7,3 Prozent im Jahr 2024. In manchen wirtschaftsschwachen Regionen, wo der Rüstungssektor stark vertreten ist, waren es 25 oder 30 Prozent. Und Familien, in denen die Männer bei der Armee sind, haben vier- oder fünfmal höhere Einkommen als vor dem Krieg. Aber ihre Nachbarn, die in Schulen, Krankenhäusern oder bei der Polizei arbeiten oder Rentner sind, bekamen nicht mehr Geld.

Wegen der Inflation haben sie sogar weniger Geld?

Im besten Fall sind die staatlichen Gehälter und Pensionen indexiert und werden an die offizielle Inflation des Vorjahres angepasst. Aber es gibt eine grosse Debatte darüber, wie akkurat diese Zahl ist. Offiziell betrug die Teuerung 2024 nur 9,5 Prozent. Aber wenn gewöhnliche Russen über die Teuerung sprechen, geht es um 20 oder 30 Prozent.

Seit 2014 ist es ein erklärtes Ziel des Kremls, Importe durch heimische Produktion zu ersetzen. Hat das nun funktioniert?

Nein. Zum Beispiel beschloss das Parlament im Herbst 2024 die Verlängerung des Betriebs von 140 000 Aufzügen in Apartmenthäusern. Eigentlich hätten diese Lifte wegen ihres Alters ausgemustert werden müssen. Aber russische Unternehmen können die Fahrstühle nicht liefern. Ich habe meinen Abschluss an der Moskauer Lomonossow-Universität gemacht. Kollegen erzählen mir, dass im Hauptgebäude, einem der Hochhäuser aus der Stalin-Ära, nur einer der acht Aufzüge funktioniert.

Konnten russische Firmen nicht vom Rückzug westlicher Firmen profitieren?

Doch, in einigen Nischen, zum Beispiel in der elektrotechnischen Industrie. Dort haben europäische Firmen nicht nur die Anlagen geliefert, sie wurden auch von westlichen Unternehmen installiert und gewartet. Das kriegen russische Firmen jetzt selbst hin. Aber das ist keine vollwertige Importsubstitution. Immer noch kann Russland viele Maschinen und Technologien nicht selbst herstellen. Es ist jetzt sehr abhängig von China.

Sie haben auch festgestellt, dass viele russische Firmen ihr Geld lieber investieren, als es auf der Bank zu lassen. Warum?

Eigentumsrechte sind in Russland traditionell unsicher. Vor dem Krieg haben die Unternehmen überschüssige Gewinne auf Offshore-Konten verlagert. Dort war das Geld sicher, und man machte sich nicht so leicht zum Ziel von illegalen Übernahmen, bei denen Konkurrenten und korrupte Beamte zusammenspannen. Unter anderem wegen der Sanktionen ist es jetzt viel schwieriger, das Geld ausser Landes zu bringen. Also wird es reinvestiert. Verstaatlichungen sind allerdings inzwischen ein grösseres Risiko als diese «corporate raiders».

Sind Verstaatlichungen ein neuer Trend?

Ja. Zuerst traf es nur ausländische Unternehmen, zum Beispiel die Brauerei Baltika, die dem Carlsberg-Konzern gehörte. Aber später wurden immer mehr Firmen russischer Eigentümer verstaatlicht. Putin versicherte zwar, dass es nicht darum gehe, die Privatisierungen der 1990er Jahre rückgängig zu machen. Aber später fügte er hinzu, dass Firmen verstaatlicht werden können, wenn ihre Eigentümer gegen die angeblichen Interessen oder die Sicherheit Russlands handeln. Anschliessend werden die Firmen in den allermeisten Fällen wieder privatisiert.

Wer erhält die Unternehmen?

Personen, die stark vom Kreml abhängen. So war es bei der Firma Rolf, einem der grössten Autohändler in Russland. Der Unternehmer Sergei Petrow hatte Rolf ab 1991 aufgebaut. Er ist recht prominent und unterstützte die Opposition in den 2000er Jahren und der ersten Hälfte der 2010er Jahre. Er war eine Bedrohung. Rolf wurde 2023 verstaatlicht und später an Umar Kremlew verkauft, einen Sportfunktionär und engen Freund des Chefs von Putins Sicherheitsgarde.

Der Kreml will also die Kontrolle. Was bedeutet das für das Potenzial der Wirtschaft?

Es sind schlechte Nachrichten. Zwischen 2012 und 2021 verzeichnete die Wirtschaft fast kein Wachstum. Aber es gab eben die privaten Unternehmen, die etwas von ihren Märkten verstanden und flexibel waren. Sie waren entscheidend für die Widerstandsfähigkeit der Volkswirtschaft. Das steht jetzt auf dem Spiel. Ein Wechsel der bisherigen Eigentümer zu Personen, die dem Kreml gegenüber völlig loyal und von ihm abhängig sind, wird der Wirtschaft schaden.

Warum?

Es geht um Anreize: Unternehmer kämpfen für ihre Firmen. Wenn diese auf Leute übertragen werden, welche das Unternehmen nicht selbst gründeten und es für die Hälfte des Preises bekommen haben, werden sie es schlecht führen. Für Putin ist dies jedoch eine politisch rationale Entscheidung. Bei einer sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage wird die Präsenz von Unternehmen, die sich nicht mit dem Regime identifizieren, eine Bedrohung für ihn darstellen.

Wird eine schlechtere Wirtschaftslage die Russinnen und Russen veranlassen, Druck auf Putin auszuüben?

Die Möglichkeit besteht. Aber oft hat sich die Lage nicht gravierend verschlechtert. Ja, die Leute beschweren sich über höhere Preise. Aber immerhin sind die Pensionen an die Teuerung angepasst, wenn auch mit Verzögerung. Und es geht um mehr als den Lebensstandard: Die politische Situation hat sich stark verändert. Selbst gegenüber 2020, als in Chabarowsk viele Menschen gegen die Verhaftung eines oppositionellen Gouverneurs protestierten. Heute ist der Staat viel repressiver. Es gibt keine freien Medien, Verhaftungen sind an der Tagesordnung.

Proteste sind also unwahrscheinlich?

Wenn es Proteste gibt, werden sie wahrscheinlich viel stärker ausfallen, als wir es bisher kannten – und nicht friedlich sein. Dafür gibt es schon Beispiele, etwa das Pogrom am Flughafen von Machatschkala im November 2023, in einer Region mit sehr hoher Polizeipräsenz. Wir wissen, wie es Präsident Asad in Syrien ergangen ist. Seine Lage sah stabil aus, dann ist sie innerhalb von zwei Wochen kollabiert. So kann es Russland, so kann es Putin auch ergehen.

Zur Person

PD

Andrei Jakowlew

Der Ökonom Andrei Jakowlew (59) forschte von 1993 bis 2023 an der Higher School of Economics (HSE) in Moskau, davon fast zwanzig Jahre als Vizerektor. Im März 2022 wanderte Jakowlew aus Russland aus. Zunächst war er am Davis Center für russische und eurasische Studien der Harvard-Universität tätig. Seit November 2024 ist Jakowlew Gastwissenschafter am Exzellenzcluster Contestations of the Liberal Script (Scripts) der Freien Universität Berlin.

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