Sonntag, Oktober 6

Ein grosser Krieg an der Grenze zu Libanon scheint nicht mehr ausgeschlossen. Der Konfliktforscher Jannis Grimm erklärt, was die Kalküle Israels und des Hizbullah sind und warum die Staatengemeinschaft dringend mehr zur Deeskalation tun muss.

Herr Grimm, die Lage an Israels Grenze zu Libanon ist höchst beunruhigend. Stehen wir kurz vor einem neuen grossen Krieg?

Es gibt de facto bereits seit dem 8. Oktober, als der Hizbullah nach dem Angriff der Hamas in den Konflikt eingestiegen ist, einen Krieg im Norden Israels. Seitdem gab es mehr als 7000 Luftangriffe, von denen rund 80 Prozent von Israel in Libanon geflogen wurden. Dies hat zu massiven Verwerfungen geführt, mit vielen Vertriebenen und Toten auf beiden Seiten. Der Hizbullah hat sich aber in den letzten neun Monaten zumeist an gewisse Spielregeln gehalten. So blieben die Angriffe stets unterhalb der eigenen Kapazitäten.

Nun hat sich der Konflikt aber noch einmal zugespitzt, was die Angst vor einer Eskalation schürt.

Ja, zum einen hat Israel gezielt mehrere hochrangige Hizbullah-Kommandanten getötet, wovon es lange abgesehen hatte. Zum anderen hat der Hizbullah seine Drohungen intensiviert, indem er Drohnenaufnahmen von Orten tief in Israel veröffentlicht hat. Die USA, die am Anfang des Krieges noch ihr Veto gegen Pläne Israels für einen Angriff auf den Hizbullah eingelegt hatten, haben nun versichert, dass sie im Fall einer Bodenoffensive hinter Israel stünden. Zugleich haben sie dem Hizbullah signalisiert, dass sie eine Eskalation seitens Israels auch gar nicht verhindern könnten – was so natürlich nicht stimmt.

Wie erklärt sich denn diese Zuspitzung neun Monate nach Beginn des Konflikts?

Die Situation ist für beide Seiten unhaltbar. Gerade für Israel birgt die hohe Zahl der intern Vertriebenen innenpolitischen Sprengstoff. Je länger die Leute aus dem Norden nicht nach Hause können, desto mehr wächst der Unmut. Ausserdem lässt die Abschreckung Israels nach. Der Hizbullah stellt inzwischen demonstrativ seine militärischen Fähigkeiten zur Schau. So hat er ein Video von der Zerstörung einer Iron-Dome-Batterie veröffentlicht. Dies mag als Abschreckung gedacht sein. De facto erhöht dies aber das Bedrohungsgefühl in Israel und die Bereitschaft für eine Ausweitung der Kampfhandlungen im Norden.

Hardliner in Israel fordern, den Hizbullah zurückzudrängen und eine Pufferzone auf der libanesischen Seite der Grenze zu schaffen.

Israel verlangt seit Jahren, dass sich der Hizbullah hinter den Litani-Fluss zurückzieht. Die Hardliner in Israel glauben, dass nun der Moment günstig sei, die Bedrohung im Norden ein für alle Mal zu beseitigen, da die Dörfer dort ohnehin evakuiert sind. Ausserdem würde ein Krieg der Regierung erlauben, wieder politisch in die Offensive zu gehen, nachdem sie in Gaza keines ihrer Ziele hat erreichen können.

Sind Israels Ziele in Libanon denn realistischer als jene in Gaza?

Israels oberstes Ziel ist es, einen zweiten Angriff wie am 7. Oktober zu verhindern – gerade im Norden, wo die Bedrohung noch grösser ist als in Gaza. Schon früher hat Israel den Hizbullah als Hauptgegner gesehen und dem Schutz der Nordgrenze Priorität gegeben. Ich fürchte aber, dass ein Krieg vor allem grosses Leid und Zerstörung bringen würde, auf libanesischer wie auf israelischer Seite. Und ich bezweifle, dass er Israel langfristig Ruhe bringen könnte.

Was könnte Israel denn im Fall von Libanon konkret erreichen?

Israel könnte sicher viele Hizbullah-Kommandanten ausschalten und die Miliz militärisch schwächen. Im besten Fall könnte Israel eine demilitarisierte Zone von fünf bis zehn Kilometern nördlich der Grenze schaffen. Das wäre aber keine signifikante Verbesserung gegenüber der heutigen Situation. Der Hizbullah könnte die Raketen einfach über die demilitarisierte Zone hinwegschiessen. Eine Zerschlagung des Hizbullah, der über Rückzugsräume bis nach Syrien und in den Irak verfügt, ist nicht realistisch. Israel kann diesen Konflikt nicht allein militärisch gewinnen.

Die Befürworter eines Krieges in Israel sehen dies offenbar anders.

Ich verstehe, warum für die Israeli die gegenwärtige Situation nicht haltbar ist. Aber das militärische Kalkül erschliesst sich mir nicht. Israel ist bereits mit einer Front in Gaza überfordert, und der Hizbullah ist sehr viel stärker als bei dem letzten Krieg 2006. Er ist kampferprobt, viel besser bewaffnet und hat Rücklagen aufgebaut, die es ihm erlauben würden, lange durchzuhalten – vermutlich länger als die israelische Gesellschaft bereit wäre, einen kostspieligen Krieg mit hohen Opferzahlen mitzutragen.

Welches Kalkül verfolgt denn der Hizbullah?

Im Hizbullah sind viele überzeugt, dass sie strategisch nur gewinnen können. Im besten Fall hält die Miliz einem Angriff stand und schafft es sogar, auf israelisches Gebiet vorzustossen. Im schlechtesten Fall kann sie zumindest so lange ausharren, bis die internationale Gemeinschaft eingreift und einen Waffenstillstand erzwingt. So oder so wäre sie anschliessend in einer besseren Verhandlungsposition.

Wäre ein Krieg nicht verheerend für den Hizbullah?

Für die Libanesen wäre ein neuer Krieg ein Albtraum. Die Erinnerung an die Verwüstungen des letzten Kriegs 2006, an die israelische Besetzung Südlibanons und die Greueltaten von Israels libanesischen Verbündeten in den achtziger Jahren ist noch frisch. Im Hizbullah sind viele aber zur Überzeugung gelangt, dass ein Krieg mittelfristig ohnehin unvermeidbar ist, da Israel auf Dauer seine Präsenz südlich des Litani-Flusses nicht akzeptieren wird.

Warum stellt der Hizbullah nicht einfach den Beschuss Israels ein? Dann wäre ja auch die Gefahr einer Eskalation vom Tisch.

Der Hizbullah ist eher widerwillig in den Konflikt eingetreten. Sein Führer Hassan Nasrallah hat viele enttäuscht, die sich ein stärkeres militärisches Engagement für die Palästinenser erhofft hatten. Inzwischen kann der Hizbullah aber ohne Gesichtsverlust den Konflikt nicht mehr beenden, solange es keinen Waffenstillstand in Gaza gibt. Zudem hat der Hizbullah durch seinen Einsatz sein Image als einziger wahrer Widerstand gegen Israel in einer Weise aufpoliert, wie es seit den achtziger Jahren nicht mehr der Fall war. Statt als Handlanger Irans wird die Miliz heute im ganzen Nahen Osten als entscheidender Gegner Israels gesehen.

Sie sprechen das Verhältnis zu Iran an. Wie bewerten Sie dieses?

Der Hizbullah wird oft noch immer nur als Anhängsel Irans betrachtet, dabei ist er längst über diese Rolle hinausgewachsen. Im Irak spielt er eine wichtige Rolle als Mediator zwischen schiitischen Milizen, in Syrien hat er Bashar al-Asad mit seiner Intervention 2012 die Macht gerettet, und in Libanon ist er längst zum Staat im Staat geworden. Wenn Irans Revolutionsführer Ali Khamenei morgen sterben sollte, könnte sogar die ideologische Führung der sogenannten «Achse des Widerstands» in Nasrallahs Schoss fallen.

Iran und seine Verbündeten: Die «Achse des Widerstands»

Liesse sich ein Konflikt in dieser Situation auf Libanon begrenzen?

Nein, es gibt kein realistisches Szenario, bei dem Iran und die anderen Mitglieder der «Achse des Widerstands» nicht zumindest indirekt beteiligt wären. Schiitische Milizen im Irak haben bereits angeboten, die erste Verteidigungslinie gegen Israel zu bilden. Dies hat der Hizbullah mit Verweis auf die eigenen Kapazitäten zwar abgelehnt, aber im Kriegsfall würde er diese Unterstützung wohl willkommen heissen. Von aussen wäre dies kaum zu verhindern, die Route zwischen Beirut und Bagdad ist völlig offen.

Der Krieg mit der Hamas in Gaza hat aber nicht direkt zum Eingreifen Irans geführt.

Die Hamas ist aber nicht der Hizbullah. Er ist das Musterbeispiel für den Export der iranischen Revolution in die Region und ein zentraler Akteur der «Achse des Widerstands», der das Konzept erst mit Leben erfüllt. Der Hizbullah ist heute das Modell für schiitische Milizen in anderen Ländern. Er schickt Militärberater zu Verbündeten wie den Huthi in Jemen. Das Wort von Nasrallah hat zudem grosses Gewicht bei Konflikten zwischen Milizen, etwa im Irak. Teheran würde den Hizbullah niemals fallenlassen.

Könnte der Konflikt durch eine Waffenruhe in Gaza entschärft werden?

Ja, dies halte ich weiter für möglich. Der Hizbullah hat immer betont, dass er das Feuer einstellt, wenn Israel den Krieg mit der Hamas beendet. Dann wäre es sogar denkbar, durch Verhandlungen endlich zu einem israelisch-libanesischen Grenzabkommen und damit zu einer Art kaltem Frieden zu kommen. Dass nur die Kämpfe in Gaza reduziert werden, würde dem Hizbullah aber nicht reichen.

Könnte Israel im Fall eines Krieges mit dem Hizbullah mit der Rückendeckung des Westens rechnen?

Anders als der Angriff des 7. Oktober wäre ein Krieg mit dem Hizbullah für den israelischen Staat tatsächlich eine existenzielle Bedrohung. Für Israels westliche Verbündete wäre es sehr schwierig, sich aus solch einem Krieg herauszuhalten – dies gilt auch für Deutschland, das Israels Sicherheit als Staatsräson betrachtet. Frankreich, Italien und Spanien haben Hunderte Soldaten im Rahmen der Uno-Mission in Südlibanon, die sich relativ schutzlos im Kreuzfeuer wiederfinden würden. Auch die USA haben signalisiert, dass sie an der Seite Israels stünden.

Was könnte die internationale Gemeinschaft tun, um eine Eskalation noch abzuwenden?

Neben Abschreckung braucht es auch positive Anreize für beide Seiten, sich auf eine Deeskalation einzulassen. Der amerikanische Gesandte Amos Hochstein und auch die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock haben sich für ein Abkommen an der Grenze eingesetzt. Wenn dieses eine Demilitarisierung auf beiden Seiten sicherstellte und Entschädigungen für zerstörte oder verlassene Häuser und Felder enthielte, könnte es beiden Parteien ermöglichen, ohne Gesichtsverlust aus der Eskalationsdynamik zu kommen. Dennoch gilt: Damit solche diplomatische Bemühungen fruchten können, braucht es zuerst eine Waffenruhe in Gaza.

Was würde ein Krieg denn für das fragile politische Gefüge in Libanon bedeuten?

Möglicherweise eine totale Implosion. Alte Konfliktlinien aus Zeiten des Bürgerkriegs könnten wieder aufbrechen. Rivalisierende Parteien könnten den Moment nutzen, um dem Hizbullah das Wasser abzugraben. Es wäre auch nicht ausgeschlossen, dass Saudiarabien und andere externe Akteure versuchen, die Machtverhältnisse zu ihren Gunsten zu verschieben. Für Libanon, dessen Stabilität ohnehin am seidenen Faden hängt, ist die Situation sehr gefährlich.

Könnte es nicht auch dazu führen, dass sich die Libanesen wieder hinter den Hizbullah als Verteidiger des Landes stellen?

Ja, diesen Effekt sieht man jetzt schon – gerade bei den Schiiten und in der palästinensischen Bevölkerung. Eine israelische Invasion würde es dem Hizbullah aber erlauben, sich auch gegenüber den anderen Volksgruppen als Speerspitze des Widerstands zu profilieren. Der Krieg in Gaza zeigt ja, wie dieser Mechanismus auch der Hamas zur Rekrutierung dient und die Gruppe stärkt – auch in den Flüchtlingslagern im Süden Libanons. Die Folgen dieses Krieges werden uns noch auf Jahrzehnte beschäftigen.

Jannis Julien Grimm

Der promovierte Politologe forscht am Zentrum für interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung der Freien Universität Berlin zum Nahen Osten. Er hat lange zu Protest und staatlicher Repression in Ägypten gearbeitet, im Zentrum seiner gegenwärtigen Forschung stehen die Dynamiken von Gewalt und Widerstand in Libanon und im Sudan.

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