Die Leipziger Buchmesse geht zu Ende. Für das Gastland Norwegen und die Gastgeberstadt Leipzig war sie ein Erfolg. Doch es gibt Leerstellen, die sich eingebrannt haben.
Auf einem Plakat in der Halle 1, doppelt so hoch wie der durchschnittliche Besucher der Leipziger Buchmesse, steht in blauen Buchstaben auf weissem Grund: «Welcher Donald bist Du heute?» Gemeint ist das Original aus Entenhausen, nicht der Donald in Washington. Zur Auswahl steht Donald Duck als Entdecker, Sportler, Romantiker oder Cosplayer. «Für mich mal wieder nichts dabei», sagt ein junger Messebesucher zu seinem Kumpel.
Bevor die beiden wieder mit dem Strom der vorwärtstrottenden Menschen verschmelzen, der zäh und konstant zwischen den Ständen und Hallen fliesst, dreht eine Frau sich zu ihnen um. Graues Haar, bunter Schal, eine Tasche voller von Stand zu Stand zusammengetragener Prospekte über der Schulter. «Also ich bin der Romantiker», sagt sie ungefragt zu den beiden. «Was fehlt euch denn auf dem Plakat?»
Das, was fehlt. Wie so oft, ist es auch an der Leipziger Buchmesse das, was hängenbleibt. Wer nicht da war. Was nicht sein darf. Wer den Preis nicht bekam. Worüber man kaum sprach – weder in den Messehallen am Stadtrand noch an den vielen Abendveranstaltungen von «Leipzig liest» in der Innenstadt.
Der leere Stuhl
Bei der traditionellen Eröffnungsfeier im Gewandhaus blieb in der Reihe sechs ein Stuhl frei. Es ist eine Erinnerung an den algerisch-französischen Schriftsteller Boualem Sansal, der in Algerien gerade zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde. Er gefährde mit seinen Meinungsäusserungen die Stabilität des Landes.
«Wäre es nicht interessant, alle Moscheen zu schliessen?», hatte der Intellektuelle einst in einem Interview gefragt. In einem anderen sagte er: «Der Islam ist die grösste Bedrohung Frankreichs.» Sansal macht, was gute Autoren nun einmal tun: Er stellt Fragen, er reflektiert, er kritisiert – dafür wurde er 2011 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Nun steht zu befürchten, dass der 80-jährige, krebskranke Autor die Haftstrafe nicht überleben wird.
Wäre er nicht nach Deutschland ins Exil gegangen, hätte den diesjährigen Gewinner des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung, Alhierd Bacharevič, ein ähnliches Schicksal treffen können.
Ein verbotener Roman
Als Bacharevičs nun im Gewandhaus ausgezeichneter Roman «Europas Hunde» 2017 im Original erschien, wurde er in seiner Heimat Weissrussland als «Buch des Jahres» gefeiert. 2019 schaffte er es auf die Shortlist des Bolschaja Kniga, des wichtigsten russischen Literaturpreises.
Heute sind Bacharevičs Bücher als extremistisch eingestuft und verboten. Bereits die zweite Auflage des einst gefeierten Buches wurde 2021 konfisziert und begraben. Im wahrsten Sinne: Die frisch gedruckten Bücher wurden in einem eigens dafür ausgebaggerten Loch verscharrt.
«Europas Hunde» erzählt Märchen, Geschichten und Dystopien über eine Zeitspanne von 2017 bis 2050. Eine Zukunft, in der Weissrussland nur noch ein im Verschwinden begriffener Pufferstaat ist. Über allem droht Russland. «Die Hölle. Das Imperium des Horrors und des Blutes. Das Land des wilden Schreis», steht im Roman.
In seiner Dankesrede in Leipzig sagte Bacharevič über die Hellsichtigkeit seines Romans, es sei die Aufgabe eines Autors, die Warnsignale seiner Zeit zu erkennen. Das tat er 2017, und er tut es auch heute. «Zwischen unserer freien Welt und dem russischen Reich steht nur die ukrainische Armee», sagt er im Gewandhaus. Und mahnt: «Ein durch Zugeständnisse an die Terroristen im Kreml erreichter Frieden würde bald einen neuen, noch grösseren Krieg über Europa bringen.»
Wer den Preis nicht bekam
«Europas Hunde» erschien erst im vergangenen Jahr auf Deutsch, der Sprache von Bacharevičs Exil. Übersetzt hat den Roman Thomas Weiler, der am darauffolgenden Messetag seinerseits einen Preis entgegennehmen durfte: für seine Übersetzung von «Feuerdörfer. Wehrmachtsverbrechen in Belarus – Zeitzeugen berichten» von Ales Adamowitsch, Janka Bryl und Uladsimir Kalesnik.
Neben Weiler wurde auch die in Berlin lebende russische Kulturjournalistin Irina Rastorgueva für ihr Sachbuch «Pop-up-Propaganda. Epikrise der russischen Selbstvergiftung» ausgezeichnet. Auf beide Preise folgte wohlwollendes Nicken im Publikum. Dann kam die Belletristik an die Reihe.
Auf der Shortlist standen unter anderem Christian Krachts «Air» und «Wackelkontakt» von Wolf Haas. Draussen auf den Festbänken und drinnen unter der Glaskuppel der Haupthalle wurde vor der Preisverleihung primär diskutiert, welcher dieser beiden Autoren den Sieg davontragen würde. Umso mehr gab es zu reden, als keiner der beiden gewann.
Die Jury des Leipziger Buchpreises entschied sich stattdessen für «Halbinsel» von Kristine Bilkau. Ein Generationenkonflikt am Rande Deutschlands. Eine Mutter-Tochter-Geschichte, die von Zukunftsangst und Vergangenheitsverweigerung bis -bewältigung erzählt.
Sie habe in letzter Zeit viel über die vergangenen zehn Jahre nachgedacht, sagt Bilkau, deren Debütroman «Die Glücklichen» 2015 erschienen war. Über den verrohenden Diskurs, die drohende Klimakatastrophe, die nicht abreissenden Schreckensnachrichten. Für Erwachsene sei das ein heftiges Jahrzehnt – für Kinder und Jugendliche aber die einzige Realität, die sie je kannten. «Wir schulden es dieser jungen Generation, auf die Zukunft zu achten.» Damit meinte sie das Klima auf der Erde ebenso wie jenes in der Gesellschaft.
Gut sei dieser Roman, so der zumeist männliche Tenor an den Apéro-Stehtischchen, aber nicht gut genug, um mit Haas’ experimentellem und Krachts eskapistischem Roman mithalten zu können. Das ist allerdings falsch: Bilkau kann mit ihrer ruhigen Erzählstimme und dieser ihr eigenen, wahnsinnig präzisen Sprache literarisch durchaus mithalten.
Zudem bestärkt Leipzig mit allen vergebenen Auszeichnungen das eigene Selbstverständnis, als Publikumsmesse die Kunst der Literatur mit den Themen und Problemen der Gegenwart zu verknüpfen. Bilkau, die aus Alltäglichkeit mittels Erzählkunst etwas Allgemeingültiges herauszuschälen vermag, passt zu diesem Literaturverständnis.
Kein Thema
«Wahre Literatur», so sagte es Bacharevič bei seiner Dankesrede am Abend zuvor, «versucht die Realität in drei Dimensionen zugleich zu sehen. Sie spricht gleichzeitig mit denjenigen, die waren, mit denjenigen, die da sind, und mit denjenigen, die noch kommen.» Genau das tut Bilkau mit «Halbinsel». Und das tut auch Bacharevič – obwohl es ihm nach eigenen Angaben lieber wäre, sich weder um Lukaschenko noch um Putin scheren zu müssen, sondern seinen Fokus einzig auf die Sprache und sein Erzählen legen zu können.
Die literarische Auseinandersetzung mit und Abarbeitung an der Gegenwart ist zuweilen mühsam. Umso wichtiger ist das Zeichen, das Leipzig mit der Vergabe seiner Preise gesetzt hat. Gleichzeitig hat der Eskapismus an dieser Messe mit ihrem grossen Fantasy-, Romantik- und Unterhaltungsliteratur-Sektor einen grossen Anteil. Und der dürfte in den kommenden Jahren weiter wachsen.
Obwohl Veranstaltungen zu den grossen Themen der Gegenwart stattfanden, fiel auf, worüber wenig gesprochen wurde. 38,5 Prozent beträgt der AfD-Wähleranteil in Sachsen. Doch während im vergangenen Jahr viele Messestände konkret die deutsche Politik thematisierten, beim Katapult-Verlag etwa gab es gebastelte Protestschilder, auf denen unter anderem «Demokratie retten» stand, war diese Messe zahmer. Kaum einer mochte zwischen den Pflichtterminen politische Probleme wälzen. Stattdessen war die Nachfrage nach Unterhaltungsliteratur in diesem Jahr noch grösser.
Fokus auf Ablenkung und Geschichten statt auf Brandherde und Geschichte: Manchmal mutete das an, als wäre der Literaturbetrieb im Begriff, sich langsam in sich selbst zurückzuziehen. Dass manche lieber Krachts Eskapismus als Bilkaus Realismus prämiert gesehen hätten, ist ein Symptom davon.
Gab es im vergangenen Jahr noch mehrere Störaktionen von Gaza-Aktivisten, so blieb diesmal alles ruhig. Das liegt an einem verbesserten Sicherheitskonzept. Und vielleicht auch daran, dass immer weniger Leute Lust haben, sich intensiv mit der Gegenwart auseinanderzusetzen. Entdecker- oder Sportler-Donald? «Mir fehlt der gemütliche Chiller-Donald», sagt der junge Mann in Halle 1.