Donnerstag, Oktober 3

Mit der integrativen Schule könne man die Stigmatisierung von lernschwachen Schülern nicht beseitigen, erklärt der passionierte Lehrer Felix Christ. Er beobachtet sogar das Gegenteil.

Das baselstädtische Kantonsparlament hat bei der integrativen Schule eine Kehrtwende beschlossen. Nachdem Kleinklassen vor über zehn Jahren vollständig abgeschafft worden sind, können Schulen für Kinder mit Lernschwäche und Lernstörungen wieder Förderklassen einführen. Auslöser war eine Volksinitiative aus Schulkreisen. Felix Christ, der ein Berufsleben lang als Primar- und als Kleinklassenlehrer tätig war, ist nicht überrascht. Man sei bei der integrativen Schule schlicht von falschen Prämissen ausgegangen, erklärt er. Christ hat die Volksinitiative zur Wiedereinführung der Förderklassen unterstützt.

Derzeit wird intensiv über ein Verbot von Smartphones an Schulen gesprochen. Was halten Sie davon?

An meiner früheren Schule sind sie schon heute verboten, zumindest in den ersten Primarschuljahren. Und ich halte das für richtig.

Wieso?

Die Kinder sollen sich in der Pause körperlich bewegen. Und wenn sie am Smartphone sind, tun sie das eher nicht. Das ist für mich der wichtigste Grund.

Es gibt also noch andere Gründe?

Bevor es dieses Verbot gab, haben ältere Schüler den jüngeren ungeeignete Inhalte – auch Pornos – gezeigt. Seither sind Smartphones zu Schulzeiten auf dem Gelände meiner damaligen Schule verboten. An anderen Schulstandorten gibt es ähnliche Regeln.

Das heisst, solche Geräte haben an Schulen nichts verloren?

So weit würde ich nicht gehen. Erstens spreche ich von der Primarschule. Und zweitens kann es im Sachunterricht durchaus sinnvoll sein, wenn die Kinder diese Geräte zur Recherche verwenden. In Basel werden alle Schülerinnen und Schüler ab der vierten oder fünften Klasse mit einem Tablet ausgerüstet.

Ist das aus Ihrer Sicht eine gute Entwicklung?

Ob der Output dadurch qualitativ besser und der Lerneffekt grösser wird, kann ich nicht beurteilen. Aber die Kinder sind topmotiviert. Und Begeisterung ist das Wichtigste, wenn man Schülerinnen und Schüler unterrichten will.

Vor allem in den skandinavischen Ländern gibt es immer mehr kritische Stimmen.

Kritisiert wird vor allem, dass die Kinder nicht mehr mit der Hand schreiben können, sondern nur noch tippen. Das wäre in der Tat keine gute Entwicklung. Aber bei uns ist das anders. Hier muss man noch beides können. Es geht darum, den Umgang mit der Digitalisierung zu lernen, und zwar unter Anleitung. Darum kommt die Schule heute einfach nicht mehr herum – auch wenn es sie extrem fordert.

Inwiefern?

Es braucht Zeit, und die Zahl der Lektionen ist beschränkt. Wenn die Schule immer mehr Aufgaben übernehmen muss, kommt notwendigerweise anderes zu kurz.

Was kommt zu kurz?

Jede Fachlehrperson findet natürlich, ihr Fach leide am meisten. Aber ich würde sagen: das Üben. Viele Kinder gehen ins Sporttraining oder in den Musikunterricht und üben zu Hause bestimmte Sachen. Dieses Einüben von Fertigkeiten ist notwendig, um am Wochenende beim Match oder am Konzert glänzen zu können. Warum gilt dieses Prinzip überall, nur in der Schule nicht?

In Basel-Stadt ist die integrative Schule zurzeit ein grosses Thema. Das Kantonsparlament hat beschlossen, wieder Förderklassen einzuführen. Ist die integrative Schule gescheitert?

Es scheint so. Und ich bin darüber nicht wirklich erstaunt. Ich habe mir schon bei der Einführung vor rund zwanzig Jahren gedacht: Wenn das nur gut kommt mit der integrativen Schule.

Welches waren Ihre Bedenken?

Ich war der Meinung, dass man wohl von falschen Prämissen ausgeht: nämlich von der Annahme, dass es für lernschwache Kinder in jedem Fall besser sei, wenn sie die Regelklasse besuchen. Häufig führt aber das erst recht zur Stigmatisierung.

Weshalb?

Ich habe lange als Kleinklassenlehrer gearbeitet. Weder für die Schülerinnen und Schüler noch für die Eltern war die Stigmatisierung dort je ein grosses Thema. Auch im Berufsleben gab es kaum Probleme – wir haben immer gute Anschlusslösungen gefunden. Denn wir konnten die Kinder gezielt fördern und für den Arbeitsmarkt fit machen. Auch die Bereitschaft der Arbeitgeber war gross, unsere gut vorbereiteten Kleinklassenschüler zu übernehmen.

Das muss ja mit der integrativen Schule nicht unbedingt schlechter funktionieren . . .

Doch. Wenn man glaubt, mit der Abschaffung der Kleinklassen beseitige man die Stigmatisierung, lügt man sich in die eigene Tasche. Für die meisten Kinder, die sich in der Schule schwertun, ist es in der Regelschule viel härter. Hier sind sie erst recht die Aussenseiter.

Das müssen Sie erklären.

In den ersten Schuljahren, wenn die Noten noch keine grosse Rolle spielen, mag das funktionieren. Aber dann werden sie von den Überfliegern in der Klasse regelrecht abgehängt. Sie konkurrieren mit Schülerinnen und Schülern, die mich, ihren Lehrer, zum Schluss sogar im Schach geschlagen haben. Jeden Tag wird es ihnen vor Augen geführt: Sie sind schwach, sie sind die Schlusslichter, sie erfüllen die Erwartungen nicht. Und mit jeder Note wird das auch noch schwarz auf weiss dokumentiert. Ich musste Zeugnisse schreiben, bei denen mir nur noch zum Heulen zumute war. Kein Wunder, sind diese Schüler demotiviert und abgelöscht.

Ist es nicht so, dass die guten Schüler die schlechteren mitziehen können?

In einer Klasse in einem Quartier mit Familien, von denen die meisten Deutsch als Muttersprache sprechen und einen guten Bildungshintergrund haben, kann das funktionieren. In solchen Klassen ist das Integrationspotenzial gross. Die Realität an den meisten Schulen sieht aber anders aus. Hier sind die Lehrpersonen mit einer riesigen Bandbreite von Kindern konfrontiert. Nicht nur die Fähigkeiten sind sehr unterschiedlich. Sondern auch die Herkunft, das soziale Umfeld, die Sprache, das Verständnis von Schule oder die Verhältnisse in den Familien. In normalen Klassen gibt es nicht einfach die guten Schüler, die die anderen mitziehen.

Aber lernschwache Kinder werden ja von Heilpädagogen und anderen Fachleuten unterstützt.

Das kann schulisch im besten Fall gröbere Defizite etwas ausgleichen. Aber die Stigmatisierung wird dadurch eher noch verstärkt: Die Klassenkameraden sehen ja, wer in den Deutsch-Förderunterricht oder zur Krisenintervention muss. So macht man Lernschwäche sichtbar. Und das ist auch nicht gut für den Rest der Klasse.

Weshalb?

Die Unzahl von Lehrpersonen, Heilpädagogen und Fachleuten sorgt für Unruhe. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen von Schülerinnen, Schülern und Lehrpersonen. Je nachdem, wer sich gerade in der Klasse befindet, verändert sich die Dynamik. Das erschwert es enorm, eine Klasse zu unterrichten. Darunter leiden lernschwache Kinder am meisten.

Aber ist es nicht beschönigend, wenn man sagt, im alten System ohne Kleinklassen habe es keine Stigmatisierung gegeben?

Das behaupte ich auch nicht. Natürlich gab es das auch. Aber es war sicher nicht so prägend, wie dies heute der Fall ist.

Dennoch schwingt bei Kleinklassen immer der Beigeschmack von Erfolglosigkeit mit.

Das klingt vielleicht für Sie so. Aber wenn man alle Kinder gleich behandelt, besteht die Gefahr, dass man sie auch über denselben Leisten schlägt. Ein Lehrerkollege hat mir vor vielen Jahren von einem Knaben erzählt, der schulisch in der Klasse nicht gerade den Ton angab. Auf dem Fussballplatz aber war er unschlagbar, ein richtiger Leader. Jahre später wurde er zu einem bekannten Profi. Natürlich kann nicht jedes Kind Fussballprofi werden. Aber die Geschichte zeigt: Nicht alle Kinder blühen im gleichen Setting auf.

Wieso kommen eigentlich alle Studien zu dem Schluss, dass die integrative Schule ein Erfolg ist?

Ich glaube, das liegt daran, dass alle Entscheidungsträger im Bildungsbereich gute Schüler waren. Das sind Pädagogen, Heilpädagogen, Juristen und andere Akademiker. Sie wissen gar nicht, wie sich das anfühlt, wenn man mit dem Rücken zur Wand steht. Wie es ist, wenn man zu den Schlechtesten in der Klasse gehört.

Wie kann man denn in Kleinklassen das Potenzial fördern?

Es gibt sie ja seit über zwanzig Jahren nicht mehr, deshalb kann ich nur von damals erzählen. Erstens nahm das Üben und Repetieren viel mehr Raum ein. Zweitens setzte man die Schwerpunkte anders. Fremdsprachen spielten damals nur eine marginale Rolle, dafür war das Handwerkliche viel wichtiger. Übrigens durchaus auf hohem Niveau: Wir haben damals nicht einfach ein bisschen gebastelt, sondern die Schüler haben beispielsweise gelernt, wie man eine Dampfmaschine baut.

Eine Rückkehr zur Kleinklasse von früher wird es nicht geben. Wie muss sich die Schule weiterentwickeln?

Die integrative Schule ist nicht das einzige Problem. Heute sind die Kinder sechs Jahre lang in der gleichen Klasse. Das ist zu lange. Man könnte den unterschiedlichen Leistungsniveaus gerecht werden, indem man sie anhand von Anforderungen, die erfüllt sind oder nicht, auf verschiedene Klassen aufteilt. In den ersten beiden Klassen steht die Sozialisation, das Miteinander im Mittelpunkt. Doch dann entwickeln sich die Leistungsniveaus sehr unterschiedlich. In der 5. und 6. Klasse geht es dann ans Eingemachte.

Wie zeigt sich das?

Die Zahl der Tests und die Vorbereitungszeit dafür steigt. Es gibt Wochen, da ist die Prüfungsdichte schlicht zu hoch – für Schüler und auch für die Lehrpersonen. Diese müssen diese Prüfungen heute so durchführen, dass sie rekursfest sind.

Was heisst das?

Es darf am Ergebnis nichts zu rütteln geben. Angenommen, man braucht 67 Punkte, um in ein höheres Niveau zu kommen, und ein Schüler hat nur 66,5 Punkte: Dann kann es sein, dass die Eltern Rekurs einlegen. Die Lehrperson muss beweisen können, dass die Punktzahl aufgrund der durchgeführten Tests gerechtfertigt ist. Das schwebt oft wie ein Damoklesschwert über den Lehrkräften.

Kommen solche Rekurse wirklich häufig vor?

Es ist nicht Alltag, aber im Unterschied zu früher gibt es das. Für viele Lehrpersonen ist das eine zusätzliche Belastung – auch wenn die Erfolgsquote dieser Rekurse gering ist. Generell ist die Anspruchshaltung der Eltern grösser geworden.

Inwiefern?

Vor allem Eltern mit hohen Ansprüchen, auch Expats, treten manchmal sehr fordernd auf. Ein Beispiel war eine Mutter, die anlässlich eines Elterngesprächs sagte: Ich habe Ihnen eine To-do-List zu Ihrer Unterstützung mitgebracht . . .

Warum ist das so?

Die Eltern stellen das Wohl ihres eigenen Kindes immer in den Mittelpunkt. Das kann bizarre Formen annehmen: Ein Vater, der vom Lehrer darauf aufmerksam gemacht wurde, dass sein Sohn ständig zu spät kommt, reagierte darauf mit der Bemerkung: Haben Sie noch nie etwas vom akademischen Viertel gehört? Er meinte das nicht als Witz . . .!

Andererseits beklagen sich viele Lehrerinnen und Lehrer darüber, dass den Schülern der Respekt fehle.

Auch das ist ein Problem. Schüler aus bestimmten Ländern beleidigen vor allem Junglehrerinnen mit Verbalinjurien oft auch unter der Gürtellinie. Zweimal wurde ich in solchen Situationen gerufen, um der Lehrerin den Rücken frei zu halten, bis sich die Situation beruhigt hatte. Meine Erfahrung ist allerdings, dass es mit klaren Regeln meistens klappt. Ich habe jahrelang Fussball-Schülermeisterschaften gepfiffen. Die gleichen Flegel, die in der Klasse gross auftrumpften, haben sich auf dem Spielfeld prima an die Vorschriften gehalten. Gelbe Karte, rote Karte – das funktioniert.

Wie hat sich die Rolle der Lehrer verändert?

Die Lehrpersonen sind zu einer Art Coach geworden. Das hat auch mit dem Lehrplan 21 zu tun. Das Wissen ist in den Hintergrund gerückt – und damit auch die Art der Wissensvermittlung. Heute ist alles Wissen immer und überall verfügbar. Die Kinder arbeiten ihre Bulletins in Deutsch oder Mathematik selbständig ab – die Lehrperson ist oft nur noch beratend tätig. Das funktioniert zwar recht gut. Aber es braucht auch den Frontalunterricht. In dieser Zeitspanne ist die ganze Aufmerksamkeit auf den Lehrer gerichtet, der etwas erklärt. Es wird unterschätzt, wie gut das auch heute noch klappt. Natürlich ist der Frontalunterricht nicht das Mass aller Dinge – aber für gute Lehrer war er das auch früher nicht.

Eine wichtige Neuerung der letzten Jahre ist der frühe Fremdsprachenunterricht.

Hier ist es wie bei der integrativen Schule: In Klassen mit Kindern aus bildungsnahem Umfeld kann das funktionieren. Aber für viele Schülerinnen und Schüler ist schon das Deutsch eine Herausforderung. Zu Hause sprechen die Kinder ihre Muttersprache. Das Beherrschen der deutschen Sprache ist aber die Voraussetzung, um auch die anderen Fächer zu verstehen. Das muss im Vordergrund stehen. Darin sehe ich eines der Hauptprobleme des frühen Fremdsprachenunterrichts: Er geht auf Kosten anderer Fächer.

Die Idee des frühen Fremdsprachenunterrichts ist es, dass die Kinder auf natürliche Weise lernen, in einem sogenannten Sprachbad.

Das klappt niemals mit zwei Lektionen pro Woche, sondern nur wenn die Kinder die Sprache dauernd hören. Es gibt Studien, die besagen, dass diese Kinder in der Sekundarschule in einem Jahr locker lernen, was sie sich in drei Jahren in der Primarschule hart erarbeiten mussten.

Gibt es aus Ihrer Sicht auch Entwicklungen in den vergangenen zwanzig Jahren, die positiv waren und die Schule weitergebracht haben?

Meines Erachtens sind die Kinder aufgrund des selbständigen Lernens autonomer geworden. Sie brauchen das Handy und das iPad als Tool, wie es die meisten meiner Generation nicht können. Sie sind es gewohnt, Probleme eigenständig anzupacken und zu lösen. Das ist sicher ein Fortschritt.

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