Norbert Joos war einer der bekanntesten Schweizer Höhenbergsteiger. Der Bündner bezwang dreizehn der vierzehn Achttausender, ohne dass er Flaschensauerstoff zu Hilfe nahm. Jetzt muss seine Schwester ihr gemeinsames Geschäft schliessen.

Wenn Nives Joos morgens im Büro sitzt, glaubt sie ihren Bruder Norbert zu hören. Wie er durch den Hintereingang ihres Bergsportgeschäfts hereinkommt und ihr durch den ganzen Laden zuruft: «Spitz, wo bisch?»

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Das war ihr Ritual – bis Norbert Joos, von allen «Noppa» genannt, verunglückte. Am 10. Juli 2016 war er als Bergführer mit zwei italienischen Gästen am Piz Bernina unterwegs. Auf dem Abstieg rutschte eine Person aus und riss die anderen mit. Die Gäste überlebten schwer verletzt, Joos verstarb. Er wurde 55 Jahre alt. Der Fall ist für seine Schwester noch pendent, weil die Frau, die beim Absturz involviert war, die damalige Tragödie nicht ruhen lassen will.

Seit dem Unglück hat Joos’ jüngste Schwester Nives einen kleinen Karabiner an ihrem Halskettchen, der als Symbol für ihre Verbundenheit gilt. Sie waren jahrzehntelang ein eingespieltes Team: Sie schaute zu Hause in Chur zu ihrem Geschäft, er organisierte Expeditionen auf die höchsten Gipfel der Erde und machte den Namen Joos über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Auf «Tonbändli» sprach er jeweils, was er erlebt hatte. Sie tippte ab und erstellte einen Bericht.

Norbert Joos bezwang dreizehn der vierzehn Achttausender, ohne dass er Flaschensauerstoff zu Hilfe nahm. Dies auf allen Achttausendern zu schaffen, ist aus der Schweiz bis dato erst dem ebenfalls verstorbenen Erhard Loretan gelungen. Die Überschreitung der drei Annapurna-Gipfel im alpinen Stil, die Joos 1984 mit Loretan glückte, adelte der berühmte Reinhold Messner als «Glanztat des modernen Himalaja-Bergsteigens».

Amputierte Zehen nach dem K 2

In diesen Wochen nun nimmt Nives Joos ein zweites Mal Abschied von ihrem Noppa. Sie wird das Geschäft, das er 1993 eröffnete und das sie in seinem Sinne weiterführte, Ende Mai schliessen. Zu sehr setzt ihm die Konkurrenz durch den Onlinehandel zu. Und so herrscht im Laden an der Kasernenstrasse gerade Ausverkauf. Leute kommen hierher, um in Erinnerungen zu schwelgen. Und einen letzten «Schnupf» auf Noppa zu nehmen; für Schnupftabak hatte er immer eine Schwäche gehabt.

Nives Joos hat keine Mühe damit, sich Bilder vom Bruder anzuschauen. Eher zaubert es ihr ein Schmunzeln aufs Gesicht, wenn sie daran denkt, wie früher die elterliche Stube zu einem regelrechten Basislager mutierte, wenn Noppa und seine Kollegen zu Touren in die Bündner Berge aufbrachen. Oder wenn sie als Teenager den Burschen vor dem Ausgang die Haare frisieren durfte.

Die Anekdoten leben umso mehr auf, weil es in diesem Frühling zu Jubiläen kommt, die bedeutende Kapitel in der nationalen Bergsteiger-Geschichte darstellen. So standen vor vierzig Jahren Joos und der Winterthurer Metzgermeister Marcel Rüedi als erste Schweizer auf dem K 2. Sie mussten widrigsten Bedingungen trotzen und drei Nächte in der Todeszone auf über 8000 Metern verbringen, ohne Zelt, ohne Schlafsack und praktisch ohne etwas zu trinken. In einer Schneehöhle versuchten sie sich vor der Kälte von minus vierzig Grad zu schützen.

Seine Biografie offenbart, dass Joos ins Tagebuch schrieb: «Genau diese Nächte sind es, die mir Angst einflössen, wie einem Kind der dunkle Keller.» Und: «Meine letzten Tropfen Flüssigkeit sind in der kleinen Plastikflasche zu Eis erstarrt. Ich packe sie in meine Wärmejacke ein und hoffe, von Zeit zu Zeit einige Tröpfchen zu schlürfen.»

Joos musste dem Abenteuer Tribut zollen. Er erlitt schwere Erfrierungen an den Zehen, sie liefen schwarz an. Zurück in der Schweiz, musste er fast alle amputieren lassen. In einem Schächtelchen erhielt er die abgetrennten Glieder. Plötzlich hatte er Schuhgrösse 40 statt 42. «Doch aus solchen Tiefschlägen hat er nie ein Drama gemacht», erzählt seine Schwester, «er sah lieber das Positive.»

Seine Unbeschwertheit zeigte sich bei der Rückkehr vom K 2 besonders. Eigentlich hätte Joos auf direktem Weg vom Flughafen Zürich ins Spital nach Chur gehen sollen. Doch er bat um einen Halt an der Raststätte in Wädenswil, damit er sich eine Glace besorgen könne. Man wisse ja nie, ob es im Spital etwas Anständiges zu essen gebe, habe er gemeint.

Vor dreissig Jahren dann unternahm Joos jene Expedition, die in der Öffentlichkeit eine Kontroverse auslöste. Begleitet von Filmern des Schweizer Fernsehens, schaffte er mit dem Dhaulagiri seinen neunten Achttausender, was dadurch überschattet wurde, dass ein Mitglied der Gruppe am Gipfel zurückgeblieben war. Dessen Angehörige stellten daraufhin in der TV-Sendung «Club» das Extrembergsteigen infrage.

Joos verteidigte sich damit, dass er den später Verstorbenen, als er wahrscheinlich noch zu retten gewesen wäre, eindringlich zur Umkehr aufgefordert habe, sein Rat jedoch nicht befolgt worden sei. Und bei derlei Touren komme es auch stark auf die Eigenverantwortung an, er könne nicht von A bis Z führen.

Vor zwanzig Jahren setzte sich Joos in seinem Heimatkanton ein Denkmal, indem er mit dem Bergführerkollegen Peter Gujan die Grenze Graubündens ablief. An den 77 Tagen, die sie dafür brauchten, bewältigten sie 740 Kilometer, 145 000 Höhenmeter und 335 Gipfel, darunter den einzigen Viertausender, den Piz Bernina, der später Joos zum Verhängnis werden sollte.

Sie waren diversen Gefahren ausgesetzt; grossen wie Blitzschlag und brüchigem Fels. Und kleineren wie missgelaunten Bauarbeitern, die ihnen den Zutritt zu einer Hütte verwehrten und mit Schlägen drohten. Die Alpinisten sagten hinterher, sie hätten nie miteinander gestritten. Sie hätten zwar den anderen manchmal «Schafseckel» genannt, aber das sei liebevoll gemeint gewesen, ein Mittel, um mit der ständigen Anspannung fertigzuwerden.

Ja, der Noppa habe halt für jeden einen Kosenamen gehabt, sagt Nives Joos, auch sie sei nicht verschont worden. «Aber wie er bei mir auf Spitz kam? Keine Ahnung!»

Pech am Mount Everest

Es mag wundersam erscheinen, was Norbert Joos alles erreicht hat. Denn als kleines Kind litt er unter Asthma, Allergien und einer Hirnhautentzündung. Doch vielleicht habe er gerade deswegen eine enorme Widerstandskraft entwickelt und die Konfrontation mit Hindernissen gesucht, so seine Schwester. Es begann damit, dass er mit 12 Jahren aufs Matterhorn stieg und trotz Heuschnupfen eine Lehre als Förster machte. Seinen ersten Achttausender erklomm Joos 1982 mit dem Nanga Parbat. Und schon da wurde er mit dem Tod konfrontiert, weil ein 23-jähriger Kollege zurückblieb.

24 Jahre später folgte Joos’ letzter Achttausender, der Kangchendzönga – und hier ereignete sich nach dem Abstieg Folgenschweres. Seine Begleiter fanden Joos im Basislager vor seinem Zelt am Boden liegend. Zuerst dachten sie an einen Scherz, Noppa galt ja als Spassvogel. Doch es sollte sich herausstellen, dass er bewusstlos war und einen Schlaganfall erlitten hatte, wegen eines angeborenen Lochs im Herzen, das nie entdeckt worden war.

Er konnte sich zunächst nicht mehr richtig artikulieren, vertauschte Zahlen und Buchstaben. Im Zuge eines Klinikaufenthalts und einer Therapie musste er das Sprechen, Lesen und Schreiben wieder lernen. «Aber es war typisch für ihn, dass er dabei nie den Humor verloren hat», sagt Nives Joos.

Nach einem Jahr hatte er vieles wieder aufgeholt. Nur: Die Besteigung des einzigen Achttausenders, der ihm fehlte, blieb ihm verwehrt. 2008 versuchte er sich ein sechstes und letztes Mal am Mount Everest. Doch er musste einsehen, dass seine Verfassung nicht mehr genügte. Experten sind sich einig, dass Joos sechs Mal auf dem Everest gestanden wäre, hätte er Flaschensauerstoff verwendet. Aber das hätte nicht seinem Verständnis vom Höhenbergsteigen entsprochen. Für ihn stand dieses Hilfsmittel für Doping und Betrug.

Am Everest hatte Joos immer mit ungünstigen Umständen zu kämpfen. Beim letzten Versuch wurde er ausgebremst, weil die Chinesen wegen der anstehenden Olympischen Sommerspiele in Peking einen Fackellauf auf das «Dach der Welt» orchestrierten. Damit die Mission nicht gestört wurde, verboten sie anderen Alpinisten den Aufstieg und nahmen ihnen alle technischen Geräte ab. «Wäre trotzdem jemand Richtung Gipfel aufgebrochen, hätten ihn Scharfschützen abgeknallt», sagte Joos später.

Daheim in Chur machten sie sich ständig Sorgen um ihren Noppa, vor allem die Mutter, eine Städterin. Laut Biografie ist er einmal vom «Blick» irrtümlich für tot erklärt worden, dabei war er noch quicklebendig. Als Entschuldigung schickte die Zeitung der Familie einen Blumenstrauss. Nives Joos sagt, sie sei als Jugendliche oft krank geworden, wenn Noppa auf Expedition gewesen sei.

Ihre Seelenverwandtschaft löste hie und da Irritationen aus. Zwei Tage nach seinem Tod öffnete sie das Geschäft, damit Bekannte Andacht halten konnten, was manchen missfiel. Nives Joos sagt, Noppa hätte es so gewollt und ihr zugerufen: «Spitz, goht’s eigentlich no, Lada off, vorwärtsmacha!» Sie muss lachen, als ihr das in den Sinn kommt.

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