Montag, Oktober 7

Volker Schmidt lebt in Solingen und hatte Glück. Weil ihm die Musik nicht gefiel, verliess er rechtzeitig den Platz, auf dem kurz darauf ein syrischer Asylbewerber drei Menschen tötete. Eine Reportage

Nein, Volker Schmidt möchte nicht weiter darüber nachdenken. «Hätte, wäre, wenn», das sei nicht seine Sache. Aber ja, sagt er, das sei diesmal sehr nah gewesen. «Und das macht mich wütend. Da hört es für mich jetzt auf.»

Seit 64 Jahren lebt Volker Schmidt in Solingen, geboren in der Stadt, in der seit Hunderten von Jahren Klingen und Messer weltbekannter Marken hergestellt werden. Solingen ist auf diese Tradition so stolz, dass es sich «Klingenstadt» nennt. So steht es auf jedem Ortseingangsschild und mutet gerade sehr makaber an. Es war die sehr scharfe Klinge eines Messers, mit dem am Freitag mutmasslich ein 26-jähriger Flüchtling aus Syrien drei Bewohner der Stadt getötet und acht teilweise schwer verletzt hat.

Am Tag zwei nach dem, was die deutsche Bundesanwaltschaft inzwischen als Terroranschlag eines Islamisten bezeichnet, steht Schmidt am Beginn der Hauptstrasse, der zentralen Meile in der Solinger Innenstadt. Er trägt eine beige knielange Hose, schwarze Schuhe und ein schwarzes Poloshirt, die Haare kurz, der Bart gestutzt. «Hier hielten sich meine Lebensgefährtin und ich auf, als die Krankenwagen kamen», sagt er und deutet mit der Hand hinunter auf den Mühlenplatz, ein Rund, zur Hälfte gerahmt von Shops und einem Restaurant, von dem ein paar Stufen nach oben zu der Einkaufsstrasse führen.

Ein Magnet für Migranten

Der Mühlenplatz ist einer von mehreren Orten, an denen sich am Freitagabend die Solinger trafen, um Bands auf kleinen Bühnen zuzuhören, zu essen und zu trinken. Es gab etwas zu feiern: Die Stadt im Bergischen Land zwischen Köln und Dortmund wurde vor 650 Jahren gegründet. Ein «Festival der Vielfalt» sollte es sein, so vielfältig wie die Bürgerschaft mit ihren 164 000 Einwohnern. Ein Fest für Jung und Alt, für Menschen mit deutschen Wurzeln und für jene mit migrantischen.

Vor allem auf Letztere wirkt Solingen wie ein Magnet. 38 Prozent der Einwohner haben nach Angaben der Stadt einen Migrationshintergrund, sind also Flüchtlinge, Einwanderer oder Kinder von ihnen. Auch der mutmassliche Attentäter von Freitag ist einer von ihnen. Er war vor zwei Jahren aus Syrien über Bulgarien nach Deutschland gekommen und soll untergetaucht sein, nachdem die Behörden sein Asylgesuch abgelehnt hatten. Ein halbes Jahr später war der Ablehnungsentscheid abgelaufen. Er beantragte erneut Asyl und wurde in die Flüchtlingsunterkunft nach Solingen geschickt.

Volker Schmidt hat sich nicht viel gedacht, als die Krankenwagen gegen 21 Uhr 30 an der Kreuzung vor der St.-Clemens-Kirche in Richtung Innenstadt abbogen. Vielleicht ein paar Kreislaufprobleme, habe er zu seiner Lebensgefährtin gesagt. Unten auf dem Mühlenplatz spielte eine Band, die populäre Songs coverte, die Leute sangen mit, dicht gedrängt und gut gelaunt. Seit zweieinhalb Stunden war Schmidt schon auf dem Stadtfest unterwegs, ein Bier hier, eine Bratwurst dort. Am Mühlenplatz gefiel es ihm am besten, aber nun drängte ihn ein Bedürfnis.

Nichts los am Toilettenwagen

Er lief ein Stück die Hauptstrasse hinunter und bog nach 100 Metern rechts ab in Richtung Fronhof. Das ist noch so ein Platz, auf dem etwas los war. Als er den Toilettenwagen erreicht habe, habe er sich gewundert, dass so gut wie niemand dort gewesen sei, sagt er. «Ich sah das Blaulicht der Rettungswagen, und dann sagte der Toilettenmann zu mir: ‹Geht lieber nach Hause. Hier hat es einen Messerangriff mit Toten gegeben. Der Täter ist auf der Flucht.›»

Schmidt erzählt davon in einem ruhigen, gefassten Ton. Am Vorabend hatte sich der mutmassliche Täter der Polizei gestellt, am Sonntagvormittag gab es zwei Trauergottesdienste in der Stadt. Solingen stehe unter Schock, berichteten Medien und zeigten Bilder vom Vorplatz der evangelischen Kirche mit Menschen, die Blumen niederlegten und Kerzen aufstellten.

Schmidt, der nach seiner Zeit bei der Bundeswehr als Messmittelbeauftragter in einem metallverarbeitenden Unternehmen gearbeitet hat, läuft vom Mühlenplatz die Hauptstrasse hinunter. Vereinzelt stehen Tische vor Cafés oder anderen Lokalen. Menschen sitzen auf Stühlen, vor sich einen Eisbecher. Junge Leute schlendern lachend die Strasse entlang, Paare spazieren vorbei, unter ihnen Frauen mit Kopftuch und Abaya, dem traditionellen Überkleid im arabischen Raum.

Die Stadt ist keine Schönheit

Den Weg säumen Läden und Geschäfte in Gebäuden, die aus den 1960er und 1970er Jahren stammen müssen. Solingen, im Zweiten Weltkrieg schwer zerstört, ist keine Schönheit. Die Stadt wirkt architektonisch zusammengeschustert aus Zweckbauten aus der Zeit des westdeutschen Wirtschaftswunders.

Seit Jahren, sagt Schmidt, befinde sich die Innenstadt im Niedergang. Er läuft an Galeria Karstadt Kaufhof vorbei, einem Betonklotz, der leer steht. Billigläden reihen sich aneinander, dazwischen Glücksspielläden und arabische Herrenfriseure und immer wieder Leerstand. Seelenlos, so beschreibt er die Stadt, die einmal seine gewesen sei. «So wie es heute in Solingen ist, ist das nicht mehr meine Stadt», sagt Schmidt.

Solingen ist besonders vom Strukturwandel betroffen, der Nordrhein-Westfalen, Deutschlands bevölkerungsreichstes Bundesland, seit Jahren stark verändert. Die Manufakturen, in denen Küchen- und Jagdmesser, Rasierklingen, Besteck und Taschenmesser hergestellt werden, prägten einst das Stadtbild. Heute gehört die Schneidwarenindustrie nicht einmal mehr zu den grösseren Arbeitgebern der Stadt, in der an diesem Sonntagnachmittag die Polizei omnipräsent ist.

Die Tatwaffe in der Mülltonne

In der Goerdelerstrasse reiht sich Mannschaftstransportwagen an Mannschaftstransportwagen. Sie parkieren zwischen dem alten und dem neuen Finanzamt. Von hier aus soll der Attentäter am Freitag losgelaufen sein. Es sind nur ein paar Meter von der Hauptstrasse zur Asylunterkunft, einmal abbiegen, schon steht Schmidt an der Ampel davor. Links von ihm, 50 Meter entfernt, flattert ein rot-weisses Absperrband der Polizei im Fahrtwind der vorbeifahrenden Autos.

Dahinter befindet sich ein Torbogen, über dem «Deutscher Kinderschutzbund» steht. Der Täter soll hier entlanggelaufen sein auf dem Weg zum Fronhof: durch den Torbogen, über Höfe, zwischen den Häusern entlang, die Hauptstrasse gekreuzt hin zum Ort, an dem er offenbar wahllos auf Menschen einstach. Dann mutmasslich den gleichen Weg zurück, um in der Stadt unterzutauchen. Die Tatwaffe soll er in eine der Mülltonnen geworfen haben, die neben dem Torbogen hinter der Polizeiabsperrung stehen.

Der Fronhof ist ein kleiner Platz in einem Carré, umgeben von einer Pizzeria, einem Café, einem Friseur und einem Juwelier. Auf seinem Weg durch die Innenstadt umkreist ihn Schmidt, läuft die Zugänge von allen Himmelsrichtungen an. Doch überall stehen Polizisten hinter rot-weissen Bändern.

Freunde treffen, Musik hören

Am Freitagabend, als Schmidt sein Auto in der Tiefgarage des Mühlenplatzes abgestellt hatte, kam er noch überallhin. Mit seiner Lebensgefährtin sei er die Hauptstrasse hinuntergelaufen, ein Bier in der Hand. Sie wollten Freunde und Bekannte treffen und Musik hören. Auf dem Fronhof habe gerade die Band gewechselt, deshalb seien sie zum Neumarkt weitergezogen, dem zentralen Platz der Stadt. Dort spielte ein bekannter DJ gemeinsam mit den Solinger Sinfonikern.

Schmidt verzieht das Gesicht, als er davon erzählt. Das sei nun wirklich nicht seine Musik gewesen, sagt er. Sie gingen zurück zum Fronhof, vielleicht 150 Menschen seien dort gewesen. Inzwischen spielte die Band, Schmidt kaufte sich ein Bier. Sie trafen einen Nachbarn, stellten sich an den Rand, plauderten ein wenig und hörten die Musik. «Ich weiss auch nicht, aber auch diese Band hat mir nicht wirklich gefallen», sagt er.

Sie tranken aus, verabschiedeten sich von dem Nachbarn und verliessen den Fronhof wieder Richtung Mühlenplatz. Etwa 21 Uhr sei es da gewesen, erinnert sich Schmidt. Gut eine halbe Stunde später sticht der Attentäter auf Menschen ein, die vor der Bühne auf dem Fronhof feiern. Er tötet drei von ihnen in ähnlichem Alter wie Volker Schmidt: eine 56-jährige Frau sowie einen 56-jährigen und einen 67-jährigen Mann. Acht weitere werden teilweise schwer verletzt.

«Warum tötest du uns?!»

Er wolle nicht darüber nachdenken, was hätte sein können, sagt Schmidt. Bessere Musik, ein Bier mehr, ein längeres Gespräch mit dem Nachbarn – und dann? «Bringt nichts, sich das auszumalen», meint er auf dem Weg zur evangelischen Stadtkirche. Sie befindet sich direkt neben dem Fronhof, davor Blumen und Kerzen und ein laminiertes Blatt, auf dem in bunter Schrift geschrieben steht: «Wir haben dich beschützt! Wir haben dir geholfen! Warum tötest du uns?! Emilia (9 Jahre)»

Schmidt steht davor und sagt nichts, um ihn herum Menschen. Manche reden und fotografieren mit ihrem Handy, andere legen schweigend Blumen ab. Reporter haben sich vor Kameras aufgebaut und sprechen in Mikrofone, einige von ihnen in Spanisch und Englisch.

Ein paar Meter entfernt stehen Polizisten hinter der Absperrung zum Fronhof. Schmidt wünscht ihnen einen guten Tag und blickt auf den Platz. Alles sei noch so wie am Freitagabend, sagt er: der Wagen, an dem es Cocktails gegeben habe, die rote Früh-Kölsch-Bude und die kleine Bühne. Nur für die Menschen, die dort gewesen seien, sei nichts mehr wie vorher. Sie müssten nun mit dem Erlebten klarkommen.

Traurige Berühmtheit

Solingen ist eine gebeutelte Stadt. Im Mai 1993 erlangte sie traurige Berühmtheit, nachdem rechtsextreme Täter das Haus einer türkischen Familie in Brand gesetzt hatten. Fünf Menschen starben, unter ihnen drei Mädchen im Alter von vier, acht und zwölf Jahren. Auch in diesem Jahr gab es schon mehrere Tote. Im März und Anfang Juni brannten Häuser, in denen Migranten lebten. Vier von ihnen starben, mehr als vierzig wurden verletzt.

Ende Juni schliesslich fügte sich ein 17-Jähriger aus Surinam schwerste Verletzungen zu, als er in der Nähe des Rathauses eine Flasche mit einer explosiven Flüssigkeit fallen liess. In Solingen heisst es, bei dem Jungen habe es sich um einen «Boten» der niederländischen Drogenmafia gehandelt, der einen Brandanschlag «im Milieu» verüben sollte. Dabei ging mutmasslich etwas schief. Er starb in einer Spezialklinik in Wuppertal.

Von der Stadtkirche macht sich Volker Schmidt auf den Rückweg zu seinem Auto. Er quert den nahe gelegenen Alten Markt, an den gut besuchten Tischen des «Cafés Herzstück» servieren Kellner Eisbecher und Kaffee. Kinder klettern an einer Bronzeplastik zweier Handwerker, die mit Hämmern eine Schwertklinge schmieden. Am Kirchturm steht in grossen Lettern «Land, Land, Land, höre des Herrn Wort».

Polizeihelikopter über dem Wohnviertel

Als Schmidt am Freitagabend seiner Lebensgefährtin von dem Satz des Toilettenmannes erzählte, wollte sie sofort aufbrechen. Noch auf der Fahrt riefen die besorgten Kinder an. Sie wussten bereits, was geschehen war, und wollten wissen, ob es den Eltern gut gehe. Nachdem er Türen und Fenster verriegelt hatte, sass Schmidt bis tief in die Nacht im Wohnzimmer. Draussen sei stundenlang der Polizeihelikopter über dem Viertel geflogen auf der Suche nach dem Attentäter.

Wie es sein könne, dass «dieser Mensch» für ein halbes Jahr abtauche und dann nicht mehr abgeschoben werden könne, fragt Schmidt, bevor er sich verabschiedet. Ja, er habe Glück gehabt. Es hätte anders laufen können, sagt er. «Und es macht mich wirklich wütend, dass ich in Deutschland inzwischen überlegen muss, ob ich noch auf ein Stadtfest gehen kann.»

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