In der Zürcher Justiz sollen die Rechte von Kindern und Jugendlichen besser gewahrt werden.
Eine Befragung zu einem Vieraugendelikt im Kanton Zürich. Opfer und Beschuldigter sitzen im gleichen Raum. Ein heikler Moment. Was die Situation zusätzlich delikat macht: Der Beschuldigte ist ein Erwachsener, das Opfer ist ein zwölfjähriges Kind.
Der Mann soll das Kind auf der Strasse tätlich angegriffen haben. Es erlitt eine Hirnerschütterung. Im Raum sitzen ein Staatsanwalt, der Verteidiger des Beschuldigten sowie das Kind mit seiner Mutter.
Während der Befragung gerät plötzlich nicht etwa der Beschuldigte, sondern das Kind unter Druck. Sein später mandatierter Anwalt Fabian Spühler sagt: «Der Verteidiger des Beschuldigten hat dem Kind suggestive Fragen gestellt.» Diese habe er direkt an das Kind gerichtet.
Das Prozedere verläuft in der Regel anders. Sogenannte Ergänzungsfragen können am Schluss der Einvernahme der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht mitgeteilt werden. Die Behörde stellt diese dann der befragten Person.
Damit soll ein Kreuzverhör verhindert werden. In dem Fall geschah aber genau das. «Strafverteidiger können sehr einschüchternd wirken», sagt Spühler. Die Befragung habe zunehmend einem Kreuzverhör nach amerikanischem Vorbild geglichen.
Eine Fachperson, die das Kind seinem Alter entsprechend hätte befragen können, war laut Spühler nicht anwesend. Auch der Staatsanwalt sei nicht eingeschritten, als der Verteidiger losgelegt habe.
«Das Kind war am Schluss sehr eingeschüchtert und völlig am Ende», sagt der Opferanwalt Spühler. Er ist überzeugt: Derlei Konfrontationen können beim Opfer zu einer Retraumatisierung führen.
Für die Eltern des Kindes ist mit der Befragung eine rote Linie überschritten worden. Sie nehmen sich nach diesem Vorfall Fabian Spühler zum Anwalt. Vor Gericht wird der beschuldigte Erwachsene später wegen einfacher Körperverletzung verurteilt werden.
Dieses Beispiel mag ein Extremfall sein. Aber auch ähnliche Szenen sollen im Kanton Zürich bald der Vergangenheit angehören. Das finden nicht nur Opferanwälte oder die 2021 neu geschaffene Ombudsstelle Kinderrechte Schweiz, sondern auch die Zürcher Justizdirektorin Jacqueline Fehr (SP): «Ich habe in meiner politischen Karriere erlebt, wie die Rechte der Kinder immer wieder vergessengingen.»
Um dies zu ändern, will die Regierungsrätin die Zürcher Justiz kinderfreundlicher machen. Die Verbesserung soll allen Kindern und Jugendlichen zugutekommen, unabhängig davon, ob sie es als Opfer, Täter, Zeuge oder Angehörige mit der Zürcher Justiz zu tun bekommen. Einen Bericht der Justizdirektion, wie dies gelingen soll, hat sie am Dienstag präsentiert.
Schneller werden und einfachere Sprache sprechen
Der Bericht attestiert der Zürcher Justiz, dass sie in den vergangenen Jahren die Kinderrechte durchaus verbessert hat. So seien im Strafvollzug etwa kindergerechte Besuchsräume entstanden, und auch das Besuchsrecht habe man verbessert.
Der Bericht verortet aber auch Verbesserungspotenzial. Etwa beim Tempo. Derzeit dauern die Strafverfahren bei Jugendlichen im Schnitt 82 Tage. Dies ist zwar eine Beschleunigung im Vergleich zu den Vorjahren. 2022 warteten straffällige Jugendliche durchschnittlich noch 102 Tage, bis ein Strafbefehl bei ihnen eintraf. Es sei aber weiter wichtig, sagte Regierungsrätin Fehr, dass die Verfahren mit Beteiligung von Kindern rasch durchgeführt würden.
Auch die Sprache der Zürcher Justiz soll kindergerechter werden. Roland Zurkirchen, Leiter der Zürcher Jugendanwaltschaften, sagt: «Jugendliche müssen verstehen, warum sie eine Strafe erhalten.» Nur so würden weitere Straftaten verhindert werden.
Wie Verfahrensschritte ablaufen und welche Entscheidungen gefällt werden, soll nicht allein auf Juristendeutsch formuliert sein. Zurkirchens Beispiel: Einem jugendlichen Beschuldigten solle nicht einfach ein Strafbefehl zugeschickt werden. Denn oftmals würden die Jugendlichen nicht verstehen, dass der Strafbefehl zu einem Urteil werde. Sie müssten verstehen, dass sie dagegen Einsprache machen könnten. Deshalb müssen laut Zurkirchen die Behörden zum Strafbefehl ein Begleitschreiben mit genau diesen Erklärungen beilegen.
Kinder sollen Behörden Feedback geben
Zwei Ziele werden im Bericht formuliert: Zum einen sollen alle Fachpersonen, die im Rechtssystem mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, die Kinderrechte kennen. «Es braucht eine Affinität zu Jugendlichen, nicht nur für das Bestrafen», sagte Roland Zurkirchen. Entsprechend brauche es Aus- und Weiterbildungen.
Das andere Ziel der Zürcher Justiz: Kinder und Jugendliche sollen ihre Rechte und Rollen kennen. Die Empfehlungen, wie das gelingen soll, sind zahlreich. So sollen etwa Anhörungen in kindgerechten Räumen stattfinden oder soll die Gesprächsführung dem Alter der Kinder angepasst sein. Wie Räume kindgerecht eingerichtet sind, wird in dem Bericht nicht ausgeführt. Auch darf eine Vertrauensperson die Jugendlichen begleiten.
Weil am Dienstag von der Jugend die Rede war, diese allerdings selber nicht zu Wort kam, hat sich Justizdirektorin Fehr eine weitere Neuheit ausgedacht. Sie will ein «kindgerechtes Feedback-System entwickeln, mit dem die Jugend uns ihre Meinung sagen kann».
Für das externe Feedback soll zudem die Ombudsstelle Kinderrechte Schweiz zuständig sein, wie deren Geschäftsführerin Irène Inderbitzin am Dienstag zusagte.