Mittwoch, Oktober 2

In Wohnung und Keller des Algeriers lagerten unzählige Gegenstände der Seniorin. Alles Geschenke, erklärt der Mann.

War alles nur ein grosses Missverständnis? Ist eine alte Dame einfach vergesslich? Oder wollte ein Nachbar sie vielmehr ausnehmen «wie eine Weihnachtsgans», wie sich der Staatsanwalt sicher ist?

Das Zürcher Obergericht muss als Berufungsinstanz die Frage klären, ob ein 50-jähriger Algerier Antiquitäten, Teppiche und Silberbesteck aus der Wohnung der Nachbarin plünderte oder ob die inzwischen 91-jährige Seniorin ihm die Sachen geschenkt hatte und dies vergass.

Das Gericht will sich dazu aus erster Quelle informieren: Es hat die 91-jährige Seniorin, die inzwischen in einer Altersresidenz lebt, als Auskunftsperson vorgeladen. Die Vorinstanz, das Bezirksgericht Meilen, hatte auf eine solche Befragung noch mit der Begründung verzichtet, eine vom Staatsanwalt beantragte erneute Befragung der Seniorin brächte nichts, weil dann die Widersprüche zu ihren alten Aussagen trotzdem bestehen blieben.

Die Frau, die ursprünglich aus der Romandie stammt, gibt an, seit über fünfzig Jahren am Zürichsee zu leben und im Alltag nur noch Schweizerdeutsch zu sprechen. Trotzdem wird die gesamte Befragung mit einer Dolmetscherin auf Französisch durchgeführt.

Missverständnisse lassen sich dabei nicht aufklären. Eher reihen sich während der Befragung neue Missverständnisse aneinander. Das haben sich die Oberrichter allerdings auch ein bisschen selber zuzuschreiben. Sie passen ihre Befragungstechnik nämlich nicht wirklich den besonderen Umständen an. Komplexe mehrteilige Fragen, in Schachtelsätze verpackt, mit den üblichen juristischen Formulierungen angereichert, sind die Regel.

Oft beantwortet die Frau eine Frage zunächst, scheint dann aber erst bei einer Rückfrage zu verstehen, was eigentlich gemeint war, und erklärt das Gegenteil. Konstant bleibt sie aber bei ihrer Aussage, dass sie dem Nachbarn nie einen Wohnungsschlüssel gegeben und er ihre Sachen einfach genommen habe. Am Ende dauert die Befragung fast zweieinhalb Stunden.

Es begann mit einer spendierten Reise nach Dubai

Ursprünglich hatte die ehemalige Lebenspartnerin des Algeriers für die Nachbarin – auf deren Wunsch, wie alle Parteien bestätigen – begonnen, alte Bücher und Bilder übers Internet zu verkaufen. Die Seniorin revanchierte sich, indem sie dem Paar Dubai-Ferien für 5000 Franken bezahlte. Im August 2020 trennte sich das Liebespaar. Der Algerier blieb allein als Nachbar zurück. Ab nun gibt es zwei Versionen der Geschichte.

Die Frau erzählte ihrer Hausärztin von angeblichen Diebstählen und liess deshalb den Schlosszylinder ihrer Wohnung auswechseln. Laut der Version des Staatsanwalts soll ihr der Algerier den Schlüsselbund entwendet haben, damit regelmässig in ihre Wohnung eingedrungen sein und Wertgegenstände mitgenommen haben. Er soll davon profitiert haben, dass die Frau im Januar 2022 wegen eines Sturzes ins Spital musste und die Wohnung mehrere Monate leer stand.

Als die Frau im Sommer zurückkehrte, erstattete sie mithilfe einer Spitex-Mitarbeiterin Strafanzeige. Die Staatsanwaltschaft ordnete eine Video-Überwachung im Innern der Wohnung an. Auf zwei Aufnahmen ist zu sehen, wie der Algerier am 4. und 11. Juli 2022 in die Wohnung eindrang und diese in einem Fall mit einem Teppich wieder verliess. Auffallend war, dass er vor dem Verlassen jeweils durch den Türspion blickte, um – laut Staatsanwalt – zu sehen, ob die Luft rein war.

In seiner Wohnung und seinem Keller wurde ein wahres Warenlager sichergestellt. Er räumte von Anfang an ein, dass die Gegenstände von der Nachbarin stammten: Silberbesteck, fünf Teppiche, unzählige Bilder und Bilderrahmen, Statuen, Standuhren, Öllampen, Messing- und Kupfertöpfe. In der Anklage ist von einem Wert von mehreren zehntausend Franken die Rede.

Der Staatsanwalt, der eine Freiheitsstrafe von 14 Monaten und 6 Jahre Landesverweis für den Algerier beantragt, beschränkt sich am Obergericht darauf, der Frau nach der langen Einvernahme drei einfach formulierte Fragen zu stellen: Wollten Sie die Antiquitäten und Bilder Ihrem Nachbarn zukommen lassen? Haben Sie ihm erlaubt, Ihre Wohnung zu betreten? Wussten Sie, dass er in Ihre Wohnung ging, als Sie nicht da waren? Alle drei Fragen beantwortet die alte Dame mit einem klaren Nein.

Etwas im Kopf der Frau sei «wohl nicht mehr gut»

Der Algerier, der seit 27 Jahren in der Schweiz lebt, hundert Prozent arbeitet und sehr gut Schweizerdeutsch spricht, wiederholt seine Angaben von der Vorinstanz. Die alte Dame sei wie eine Mutter für ihn gewesen. Er habe ihr regelmässig Essen gebracht. Sie habe ihm den Wohnungsschlüssel freiwillig gegeben, erinnere sich aber wohl nicht mehr daran. Sie habe ihm das Silberbesteck und die Teppiche explizit geschenkt und ihm gesagt, er könne die anderen Sachen nehmen, bevor diese in einem Brockenhaus landeten. Sie erinnere sich wohl nicht mehr. Etwas in ihrem Kopf sei «wohl nicht mehr gut».

Die Gerichtsvorsitzende will es genauer wissen: Wenn er festgestellt habe, dass die Frau «nicht mehr gut im Kopf» sei, wie könne er da annehmen, dass sie ihm tatsächlich alles überlassen wolle? «Sie hat mir das gesagt, sonst hätte ich es nicht genommen», antwortet er. Eine weitere Frage lautet, weshalb er die Frau nach dem Sturz monatelang nicht im Spital besucht habe, wenn sie wie eine Mutter für ihn gewesen sei. Seine Antwort: «Ich hatte nicht gewusst, wo sie ist, niemand wusste, wo sie ist.»

Der Verteidiger betont in seinem Plädoyer die vielen Widersprüche in den Antworten der Seniorin. Sein Mandant sei vollumfänglich freizusprechen. Die Antiquitäten hätten ihn gar nicht interessiert. Er habe kein Geld damit machen wollen, sonst hätte die Polizei die Ware ja auch nicht mehr in seinem Keller und seiner Wohnung gefunden.

Am Ende bleiben die Zweifel. Wie schon von der Vorinstanz wird der Beschuldigte in dubio pro reo vollumfänglich von den Vorwürfen des gewerbsmässigen Diebstahls und des Hausfriedensbruchs freigesprochen. Wie es genau war, kann das Gericht nicht mehr feststellen. Für 19 Tage ungerechtfertigte Haft erhält der Algerier 3800 Franken zugesprochen. Die Kosten des Berufungsverfahrens werden auf die Staatskasse genommen.

Urteil SB230350 vom 29. 5. 2024, noch nicht rechtskräftig.

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