Dienstag, September 9

Seit fast zwanzig Jahren lebte und arbeitete Leiko Ikemura bereits in Europa, als sie 1989 ins Schloss Fürstenau bei Thusis eingeladen wurde. Hier vollzog sich ein entscheidender Wandel in ihrem Schaffen. Das ist nun in einer Ausstellung im Bündner Kunstmuseum zu sehen.

Man muss tief hinabsteigen im Kunstmuseum Chur, bis hinunter in seine Fundamente. Hat man aber einmal den letzten Treppenabsatz erreicht, erlebt man eine Erleuchtung. Der Raum weitet sich ins Innerste und zugleich ins Offene: Man schaut in die Erdgeschichte, ins Unbewusste der Seele und in die Unendlichkeit der Meere. Auf der untersten Etage des Museums hat die Künstlerin Leiko Ikemura mit ihren Werken einen Imaginationsraum geschaffen, der augenblicklich vergessen lässt, dass man sich zehn oder vielleicht zwanzig Meter unter dem Boden befindet. Es ist, als hielte man sich im schwerelosen Raum auf. Was oben ist und was unten, hat keinerlei Bedeutung mehr.

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Die Besucher treten zunächst in einen Skulpturengarten. Auf Kiesinseln aus grünem Granit hat Ikemura bronzene Fabelwesen versammelt. Teils liegen sie einzeln auf den Inseln, teils stehen sie in Gruppen wie ins Gespräch vertieft beieinander. Mitunter findet sich in den akkurat geformten Kiesbetten auch bloss ein Felsbrocken, als sei ein Meteorit zur Erde gestürzt. Zwischen den Inseln bewegt man sich wie in einem Archipel, halb geht man noch, halb meint man, im Raum zu schwimmen oder zu schweben.

Auf einer Insel am Rand des Ensembles sitzt ein «Rocket Girl» auf einem Granitblock, eine Rakete wie einen Rucksack geschultert, bereit zum Abflug. Man darf diese heitere, archaisch technoide Chimäre gewiss als eine Art ironisches Selbstporträt lesen, mit der Ikemura den Ernst und die Statik der übrigen Bronzefiguren durchbricht. Denn das «Rocket Girl» lädt die Besucher ein, aus dem Archipel herauszutreten und in das Ikemura-Universum vorzudringen.

Die zwei Geburten der Künstlerin

Zusammen mit ihrem Lebenspartner, dem Architekten Philipp von Matt, hat die Künstlerin das zweite Untergeschoss des Museums in einen Rundgang verwandelt, dessen ruhendes Zentrum der japanisch anmutende Skulpturengarten bildet. Fast vierzig Jahre ihres Schaffens vergegenwärtigt sie in dem Umgang. Er führt von kleinen Bleistiftskizzen über grossformatige Gemälde bis zu hoch aufschiessenden Bronzeplastiken. Ihre filigrane Schlichtheit knüpft an Alberto Giacomettis Werk an.

Mit riesigen, raumhohen Videoprojektionen ihrer Gemälde schafft die Künstlerin zudem überwältigende Raumerlebnisse. Die gegenläufig ineinanderfliessenden Bilder entfalten eine enorme Sogwirkung: Man taucht förmlich in die abstrakten Farbkompositionen ein und wird Teil des Kunstwerks.

Leiko Ikemura kommt von weit her. Sie musste fortgehen und sich selber fremd werden und verlieren, ehe sie zu ihrer Kunst finden konnte. 1951 in Japan geboren, ging sie mit 21 Jahren nach Spanien. Dort traf sie in Granada auf einen Bildhauer, der sich auf das Schnitzen von Marienstatuen spezialisiert hatte. Sie verstand sich auf Anhieb mit ihm, begann in seiner Werkstatt zu arbeiten und machte hier ihre ersten Erfahrungen mit Modellieren und Zeichnen. Davon erzählt sie in den Gesprächen, die sie mit Damian Jurt, dem Kurator der Ausstellung, für den Katalogband geführt hat.

Zwar hat sie sich lange zuvor schon mit Kunst befasst, doch die Begegnung mit dem Marienschnitzer muss eine Art Erweckungserlebnis gewesen sein. Erst danach begann Leiko Ikemura ein Studium an der Kunstakademie in Sevilla. Später kam sie in die Schweiz und nach Deutschland, ehe sie 1989 für einen langen Atelieraufenthalt nach Graubünden eingeladen wurde. Das muss abermals ein Wendepunkt in ihrem Leben und Schaffen gewesen sein.

Sie wohnte in Sarn, einem Dorf hoch über Thusis. Täglich sei sie, erzählt sie in den Gesprächen, hinunter nach Thusis gelaufen und über den Rhein ins Schloss Fürstenau, wo ihr ein Atelierraum zur Verfügung stand. Die Bezeichnung Schloss weckt freilich falsche Vorstellungen: Ihr Atelier befand sich im Dachstock des Gebäudes, die Decke habe aus altem, grobem Gebälk bestanden, es habe eine «archaische Stimmung» geherrscht, sagt sie. Die kleinen Fenster hätten nur wenig Licht eingelassen, oft habe sie die Tage im Halbdunkel verbracht. «In den Wintermonaten drang die Kälte ungehindert ein und machte das Arbeiten schwierig.»

Sie sei hier einem neuen Licht ausgesetzt gewesen – und sich selbst, erzählt sie. In diesem Nebeneinander von dunkler Kammer und klarem Winterlicht vollzog sich die zweite Geburt der Künstlerin Leiko Ikemura: Sie kehrte dahin zurück, woher sie gekommen war. Eine Erinnerung war wieder aufgetaucht, «weil der Ort es erlaubt hat». In Graubünden habe sie die traditionelle japanische Tuschmalerei neu entdeckt und sich ihr erstmals geöffnet.

Beseelte Berge und Landschaften

Es müssen tiefgreifende Erschütterungen gewesen sein, die sich in diesen Monaten im kalten Dachstock des Schlosses Fürstenau ereignet haben. Denn Ikemura hat nicht nur die japanische Tradition wiedergefunden, sie hat auch sich selbst gefunden: «Umgeben von dieser kraftvollen, stillen Natur, begann ich zum ersten Mal, mich wirklich auf meine eigenen inneren Bilder einzulassen.»

Fast vierzig Jahre später kommt sie nun mit ihren Bildern wieder nach Graubünden, in die Gegend also, wo sie nicht nur zu ihrer künstlerischen Herkunft zurückgefunden, sondern auch die in ihr schlummernde Künstlerin noch einmal neu erweckt hat. Umso bewegender ist es darum, dass nun auch zahlreiche Werke zu sehen sind, die damals entstanden sind: mit wenigen Bleistiftstrichen skizzierte Berge, die ganz nüchtern scheinen und doch animistisch aufgeladen sind; ausserdem Kohlezeichnungen von Kälbern oder Kühen, die beim genaueren Hinsehen zu oszillieren beginnen zwischen Mensch und Tier.

Man sieht nun, wie das, was hier begann, sich bis ins heutige Schaffen von Leiko Ikemura fortsetzt: Die damals mit Kohle gezeichneten Fabelwesen sind Verwandte der heute in Bronze gegossenen Katzengestalten und Meerjungfrauen. Und das gleissende Licht der Berge mit seinen Abschattierungen am Horizont wiederholt sich in dem grandiosen, 2012 entstandenen Bild «Berlin Horizon I», das so kraftvoll an Hodlers Bild «Der Silvaplanersee» erinnert.

So werden in dieser Ausstellung Entwicklungslinien sichtbar, die eindrücklich zur Geltung bringen, was sich verändert hat: Heute leuchten Leiko Ikemuras Bilder von innen, aus sich selbst heraus. Die Künstlerin ist eine Meisterin der Transparenz und des Lichts geworden, als käme das Licht nun aus einer fernen Tiefe, die weit hinter dem Bild liegt.

Leiko Ikemura. Das Meer in den Bergen. Bündner Kunstmuseum Chur, bis 23. November. Katalog.

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