Dienstag, Oktober 1

Zweimal stand ein Handchirurg vor Gericht, weil er einen Kunstfehler begangen haben soll. Nun wurde er freigesprochen.

Nach einem Velounfall liess sich ein Metallbauer im März 2016 von einem Spezialarzt für Chirurgie und Orthopädie in Zürich seine rechte Hand operieren. Die mutmasslichen Folgen dieser Operation führten zu einer mehrjährigen juristischen Auseinandersetzung.

Im September 2022 verurteilte das Bezirksgericht Zürich den heute 66-jährigen Chirurgen wegen fahrlässiger Körperverletzung zu einer bedingten Geldstrafe von 60 Tagessätzen à 300 Franken (18 000 Franken). Das Bezirksgericht war zu dem Schluss gekommen, dass der Beschuldigte nicht den ärztlichen Sorgfaltspflichten entsprechend operiert habe. Er habe während der Operation ärztliche Kunstfehler begangen.

Nun hat das Obergericht im Berufungsverfahren das Urteil aufgehoben und den Chirurgen vollumfänglich freigesprochen. Eine Genugtuung ist dem Arzt aber nicht zugesprochen worden. Ursprünglich hatte er 7000 Franken verlangt. Seine Verteidigerin erhält eine Prozessentschädigung von 93 500 Franken. Die finanziellen Forderungen des Metallbauers werden auf den Zivilweg verwiesen.

Widersprüchliche Ärzte- und Gutachtermeinungen

In der Anklageschrift wurde dem Chirurgen vorgeworfen, «durch ein unvorsichtiges, nicht den ärztlichen Sorgfaltspflichten entsprechendes Vorgehen» vier Fingerstrecksehnen beschädigt zu haben, so dass diese drei bis fünf Wochen nach der Operation nacheinander rissen.

Zusätzlich wurde dem Handchirurgen auch zur Last gelegt, durch unsachgemässen Einsatz eines Vapors oder eines Shavers während der Operation dem Patienten eine Brandverletzung zugefügt zu haben. Gemäss Anklage musste der Patient seinen Beruf als Metallbauer aufgeben, weil seine Hand nicht mehr wie zuvor einsatzfähig ist.

Im Verlaufe des Verfahrens waren mehrere verschiedene Gutachten, Parteigutachten und Meinungen von sachverständigen Ärzten eingeholt worden, die sich aber zum Teil widersprachen. Die Strafuntersuchung war auch bereits einmal eingestellt worden.

Bei der Befragung im Saal des Obergerichts bestreitet der Chirurg die Vorwürfe erneut und beschreibt den Richtern die Operation im Detail. Bereits vor Vorinstanz hatte er gesagt, die späteren Sehnenrisse hätten mit seiner Operation nichts zu tun. Die Anklageschrift sei Spekulation. Für die Brandverletzungen habe er keine Erklärung.

Seine Verteidigerin stellt während der Berufungsverhandlung zahlreiche Beweisanträge, vor allem sei ein neues Gutachten zur technischen Funktionsweise der verwendeten Geräte, des Vapors und des Shavers, zu erstellen. Es wird über allerlei technische Spezifikationen, über «Plasmawolken» und den Unterschied von «bipolaren» und «monopolaren» Geräten referiert.

Eventuell sei auch ein neues medizinisches Ergänzungsgutachten zu erstellen. Eine Ärztin, auf die sich die Vorinstanz zum Teil als sachverständige Zeugin abstützte, sei unglaubwürdig, habe mehrfach falsch ausgesagt und frei erfundene Fakten präsentiert, behauptet die Verteidigerin.

Wie die Sehnen durchtrennt wurden, bleibt unklar

Das Obergericht hat das Urteil am Prozesstag noch nicht eröffnet. Es hat aber dem unbegründeten Urteilsdispositiv schriftliche Erläuterungen beigefügt, die den Freispruch erklären:

Die Beweisanträge der Verteidigerin wurden abgelehnt. Weitergehende technische Abklärungen brächten keine neuen Erkenntnisse. Prozessuale Gründe, die eine Unverwertbarkeit der Aussagen der sachverständigen Zeugin zur Folge hätten, lägen nicht vor. Das Gericht sehe auch keine wesentlichen Mängel am Gerichtsgutachten.

Der Gutachter schliesse aufgrund von fehlenden sogenannten Zerreissartefakten und dem Erscheinungsbild der Sehnenränder eher auf eine Beschädigung der Sehnen durch einen scharfen Gegenstand als auf ein Zerreissen. Aufgrund der Umstände halte er eine prä- oder postoperative Schädigung für eher unwahrscheinlich, hält das Obergericht fest.

Die Richter müssten davon ausgehen, dass die Abriss- oder Schnittstellen der durchtrennten Sehnen keine zweifelsfreien Rückschlüsse auf die Ursache ermöglichten. Drei Ärzte hätten die Sehnenenden unterschiedlich beurteilt. Es sei aktenkundig, dass die Sehnen zwar vorgeschädigt waren, aber erst Wochen nach der Operation vollständig rissen.

Der Gutachter halte als Ursache für die konkreten Verletzungen der Sehnen den Vapor, den Shaver und das Skalpell für praktisch ausgeschlossen. Die Frage, wie es zur Durchtrennung der Sehnen kam, könne er nicht abschliessend beantworten.

In zeitlicher Hinsicht bestünden Hinweise darauf, dass die Sehnen während der Operation verletzt worden sein könnten. In sachlicher Hinsicht blieben aber nicht nur Zweifel, es könne aufgrund des Verletzungsbildes mit hoher Sicherheit sogar ausgeschlossen werden, dass die Verletzungen in ihrer Gesamtheit mit den verwendeten Operationsgeräten zugefügt worden seien, hält das Obergericht als Fazit fest.

Der Beschuldigte sei deshalb vom Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung freizusprechen. Seine Genugtuungsforderung wird vom Gericht aber abgewiesen. Nachteile «durch ablehnendes Verhalten in der Branche» seien nicht dargelegt worden.

Urteil SB230048 vom 8. 7. 2024, noch nicht rechtskräftig.

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