Donnerstag, Oktober 3

Ein Genfer Regisseur sollte Direktor des Théâtre du Jura werden. Doch im Zuge anonymer Nachrichten wird bekannt, dass er eine Schauspielschülerin zum Küssen drängte. Die Folgen sind erheblich.

Alles begann mit einem kurzen, kryptischen Communiqué. Darin teilte das Théâtre du Jura in Delsberg Ende vergangener Woche mit, dass es einen neuen Direktor suchen müsse. Der Genfer Theatermacher Dorian Rossel, der seinen Posten im November antreten sollte, sei derzeit Ziel einer Kampagne persönlicher Angriffe, vor allem per anonyme Briefe, hiess es in der Mitteilung. Da das Theater seinem Kulturauftrag in Ruhe nachkommen wolle, hätten der Stiftungsrat des Theaters und Rossel gemeinsam entschieden, ihre Zusammenarbeit zu beenden.

Was genau vorgefallen war, erfuhr man später aus der Westschweizer Presse. «24 heures» und «Le Temps» berichteten detailliert, wie Rossel vor vier Jahren eine Schauspielschülerin zum Küssen gedrängt habe. Und wie dieser Vorfall seitdem nicht nur das Opfer verfolge, sondern auch den Täter.

Gerichtsverfahren gegen den Täter gibt es nicht

Rossels Anwalt Nicolas Capt widersprach auf NZZ-Anfrage in keinem Punkt den Schilderungen der Westschweizer Zeitungen. Gegen seinen Mandanten laufe kein Gerichtsverfahren, weder straf- noch zivilrechtlich, teilte Capt mit. Eine Untersuchung habe einen einzigen Fall sexueller Belästigung ergeben, der zudem auf der breiten Skala der sexuellen Belästigung nur einen bescheidenen Platz habe.

Kurz vor dem ersten Weihnachtsfest in Pandemiezeiten, am 23. Dezember 2020, führen Absolventen der – mittlerweile geschlossenen – Genfer Schauspielschule Serge Martin ihr Abschlussstück auf. Die Aufführung hat wegen der Pandemie bereits um mehrere Monate verschoben werden müssen und findet praktisch ohne Publikum statt. Dorian Rossel lehrt an der Schule und ist Regisseur des Abschlussstücks.

Am Ende des regnerischen Abends bietet Rossel drei Absolventinnen an, sie nach Hause zu fahren. Als er die letzte Frau absetzt, steigt er mit aus und umarmt sie, länger als gewöhnlich. Die 30-Jährige löst sich, woraufhin Rossel ihr Gesicht in seine Hände nimmt und sie auf den Mund küsst. So gab es die Frau später zu Protokoll.

Ein ungewollter Zungenkuss

Laut diesem bleibt die Frau an jenem Abend erst wie erstarrt stehen, dann nimmt sie ihre Sachen vom Bürgersteig und dreht sich noch einmal zu Rossel. Der Theatermacher küsst sie erneut, diesmal mit der Zunge. Die Frau zieht sich erneut zurück. Daraufhin soll Rossel gesagt haben: «Wir können uns doch küssen, oder?»

Die Frau sagte später aus: «Schon nach dem ersten Kuss war klar, dass ich nicht einwilligte.» Sie wies darauf hin, dass sie an jenem Abend noch Rossels Schülerin gewesen sei.

Die Frau erstattete keine Anzeige. Sie erzählte den Vorfall offenbar in ihrem Umfeld. Daraufhin weigerten sich Schüler der Schauspielschule Serge Martin 2022, mit Dorian Rossel zusammenzuarbeiten. Und im vergangenen Frühjahr wurden Plakate für ein Theaterstück Rossels in Genf mit Graffiti besprayt, unter anderem mit dem Wort «Aggressor».

Die Genfer Behörden, die Rossels Theatergruppe «Super Trop Top!» subventionieren, werden in der Zwischenzeit auf den Fall aufmerksam. Die Theatergruppe gibt eine externe Untersuchung des Falls bei einem Spezialisten in Auftrag. In diesem Rahmen macht die Frau die zitierten Angaben.

Danach stellen die Stadt und der Kanton Genf sowie die Städte Meyrin und Lausanne ihre Subventionen an Rossels Theatergruppe ein. Jahrelang hatten sie der bekannten Gruppe Hunderttausende Franken gezahlt, zuletzt 260 000 Franken pro Jahr. Derzeit erhält «Super Trop Top!» nur noch eine Übergangssubvention von 100 000 Franken. Offiziell bestätigt niemand als Grund dafür Rossels sexuelle Belästigung, aber die Indizien scheinen eindeutig.

#MeToo gab es schon bei RTS und Ballettgruppe

In der Westschweiz wurden in den vergangenen Jahren, wie auch in der Deutschschweiz, einige prominente #MeToo-Fälle bekannt, unter anderem beim Westschweizer Radio und Fernsehen RTS, im Waadtländer Parlament und bei der Lausanner Ballettgruppe Béjart.

In der Theaterszene erzählte man sich zwar entsprechende Geschichten, aber öffentlich bekannt wurde lange nichts. Zu klein und eng ist das Milieu, zu gross sind die Abhängigkeiten und die Gefahr für die eigene Karriere. Mit Dorian Rossel hat nun auch die Westschweizer Theaterszene einen prominenten #MeToo-Fall.

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