Dienstag, Oktober 8

Nach der Entlassung des libyschen Zentralbankchefs droht das nordafrikanische Land einmal mehr im Chaos zu versinken. Dabei arbeiten die beiden Hauptkontrahenten eigentlich längst zusammen.

Sadik al-Kabir sieht auf den ersten Blick nicht aus wie ein typischer libyscher Milizführer. Der langjährige Direktor der Zentralbank in Tripolis trägt eine randlose Brille, elegante italienische Anzüge und kennt sich eher mit Bilanzen aus als mit Schusswaffen. Doch nun droht ausgerechnet ein Streit um den obersten Buchhalter des Landes den nordafrikanischen Chaosstaat einmal mehr ins Verderben zu stürzen.

Am Sonntag berief der libysche Präsidialrat Kabir von seinem Posten ab. Die Entlassung traf die libysche Hauptstadt Tripolis wie ein Donnerschlag. Die Zentralbank stellte ihren Betrieb ein, Milizen marschierten auf, und in manchen Vierteln wurden sogar Feldhospitäler errichtet. Unterstützer und Feinde des Bankenchefs gingen in Stellung. Einmal mehr rechnen die Bewohner der Stadt mit dem Schlimmsten.

Der Entlassung war ein Streit zwischen Kabir und Libyens Ministerpräsidenten Abdulhamid al-Dbaiba vorausgegangen. Die einstigen Verbündeten waren sich in die Haare geraten, als Kabir anfing, den Regierungschef für sein exzessives Ausgabenverhalten zu kritisieren. Dbaiba begann daraufhin, gegen den Bankenchef vorzugehen. Vor ein paar Tagen spitzte sich die Lage zu, als unbekannte Bewaffnete einen hohen Angestellten der Zentralbank entführten.

Eine Art stille Partnerschaft

Auf den ersten Blick scheint Dbaiba nun gewonnen zu haben. Doch das täuscht. «Legal hat die Entlassung nichts zu bedeuten», sagt der Libyen-Experte Jalel Harchaoui vom Royal United Services Institute in London. «Zudem hat Kabir mächtige Unterstützer.» Tatsächlich kann der geschasste Bankenchef ausgerechnet auf Dbaibas Erzfeind zählen: den ostlibyschen Kriegsherrn Khalifa Haftar, der am liebsten selbst in Tripolis die Macht an sich reissen würde.

Haftar und Dbaiba gelten als die starken Männer Libyens. Sie haben das ölreiche Land nach dem Ende des Bürgerkriegs, der nach dem Sturz des Diktators Muammar al-Ghadhafi 2011 gewütet hat, unter sich aufgeteilt. Der frühere General Haftar herrscht dabei von Benghasi aus über den Osten und Süden, der Ministerpräsident und seine international anerkannte Regierung über Tripolis und den Westen. 2020 hat Haftar vergeblich versucht, die Hauptstadt im Sturm zu erobern.

Seither sind die beiden offiziell verfeindeten Seiten eine Art stille Partnerschaft eingegangen. So plündern ihre Clans gemeinsam das ölreiche Land aus, zweigen Staatseinnahmen ab, lassen den lukrativen Schmuggel von Öl und Migranten zu und verteilen Jobs und Gelder an Günstlinge. Als übergeordnete Instanzen in diesem Mafiastaat existierten zuletzt nur noch zwei Institutionen: die nationale Ölgesellschaft – sowie die von Kabir geleitete Zentralbank.

Das System ist fragil

Doch wie so oft in derartigen Machtkonstellationen, die in erster Linie aus Schattenwirtschaft und Ressourcenplünderung bestehen, steht auch die Partnerschaft zwischen Tripolis und Benghasi auf tönernen Füssen. Beide Seiten müssen ihre Verbündeten und Kämpfer bei der Stange halten – und sind deshalb auf immer mehr Geld angewiesen. «Sie haben daher die Tendenz, immer mehr Ressourcen an sich zu reissen, ohne jegliches Mass», sagt Harchaoui.

Zuletzt hatte dabei offenbar der von Khalifas Sohn Saddam angeführte Haftar-Clan die Nase vorn. So gelang es den Haftars, einem ihrer Günstlinge den Vorsitz der Ölgesellschaft zu übertragen. Und auch Kabir, der Bankenchef, soll sich in letzter Zeit vermehrt in Richtung Osten orientiert haben. Das liess wiederum in Tripolis die Alarmglocken läuten, wo Dbaibas Neffe Ibrahim die Fäden zieht. Kabir – einst ein Freund – wurde mit einem Mal zum Feind.

Die ganze Affäre zeige, wie fragil das bisherige System gewesen sei, sagt Harchaoui. «Zwischen Kabir, Haftar und Dbaiba bestand eine Dreiecksbeziehung, die zwar für eine gewisse Ruhe sorgte. Doch so ein Arrangement kann eben auch jederzeit auseinanderbrechen.» In Libyen werden Entscheidungen meist auf zwei Arten gefällt: mit Geld oder mit der Waffe. Jetzt, da Dbaiba und seine Leute ihre Fleischtöpfe in Gefahr sehen, könnten sie bereit sein, bis zum Äussersten zu gehen.

Droht ein neuer Bürgerkrieg?

«Gleichzeitig wird auch die Haftar-Familie dem nicht tatenlos zusehen», sagt Harchaoui. Bereits jetzt rasselt der ostlibysche Kriegsherr mit dem Säbel und lässt seine Truppen aufmarschieren. So sollen Haftar-Kämpfer schon länger ein Auge auf die von Tripolis beherrschte Oasenstadt Ghadames an der Grenze zu Algerien geworfen haben. Zudem droht er damit, die Ölproduktion einzustellen.

Ob die Lage tatsächlich eskaliert, hängt aber auch von jenen Mächten ab, die die beiden Parteien unterstützen. In Dbaibas Fall sind das die Türken, die die Regierung in Tripolis 2020 schon einmal vor Haftars Soldateska gerettet haben. Hinter Haftar stehen wiederum die Vereinigten Arabischen Emirate, Russland und Ägypten. «Allerdings sind die Fronten nicht eindeutig», sagt Harchaoui. «So hat sich die Türkei in letzter Zeit auch Haftar angenähert, die Emirate hingegen Dbaiba.»

Angesichts des Krieges in Gaza haben die Regionalmächte vermutlich wenig Appetit auf einen weiteren Krisenherd. In Tripolis scheint das aber kaum zur Beruhigung beizutragen. «Die Stadt ist aufgeheizt und voller Propaganda und Gerüchte», sagt Harchaoui. «Die Lage ändert sich zudem jeden Tag. Die Unvorhersehbarkeit macht die Situation so gefährlich.»

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