Sonntag, September 8

Seit dem Hamas-Angriff herrscht auch in Israels Medien Ausnahmezustand. Trotz patriotischem Unterton bleiben die meisten Journalisten kritisch, insbesondere gegenüber der Regierung. Ein Aspekt wird jedoch weitgehend ausgeblendet.

Wer die Zäsur erfassen will, die der 7. Oktober für Israel markiert, muss den Fernseher einschalten. Die meisten Israeli konsumieren ihre Nachrichten eigentlich digital, doch in schweren Krisenzeiten sitzen sie vor dem TV-Bildschirm. Dort herrscht seit dreieinhalb Monaten Ausnahmezustand. Es laufen fast nur aktuelle Sendungen, nonstop, rund um die Uhr. Das Programm besteht aus einer ununterbrochenen Schleife aus Berichten, Reportagen, Diskussionsrunden, Interviews und ganz persönlichen Geschichten von Trauma und Verlust.

Begleitet von Journalisten, gehen Überlebende des Hamas-Massakers zurück an den Tatort, in ihre verwüsteten und niedergebrannten Häuser. Sie erzählen von der Todesangst in den Schutzräumen, den ermordeten Angehörigen und rettenden Helden. Freigekommene rekonstruieren ihr Geisel-Dasein im Untergrund von Gaza.

Einen festen Platz haben die immer verzweifelteren Familien von jenen, die noch dort sind. Ihr Schicksal ist ein Dauerthema. Manche Nachrichtensprecher tragen gelbe Schleifen am Revers. Verwandte von Gefangenen reden in die Kameras, um Netanyahu anzuflehen, endlich ein Abkommen zur Freilassung der Geiseln zu schliessen. Vor kurzem wurden Angehörige gezeigt, wie sie mit Megafonen an der Grenze stehen und ihren Liebsten versichern, dass sie nicht vergessen seien. Die Israeli wissen längst, wer zu wem gehört.

Verzweifelte Notrufe im Live-Fernsehen

Auf allen vier Sendern erinnert ein kleines Emblem daran, dass Krieg ist. «Gemeinsam werden wir siegen», steht da, oder «Israel im Krieg». Bei Raketenbeschuss tauchen auf dem Bildschirm orange-blaue Streifen mit den Namen der betroffenen Orte auf. Der Zuschauer weiss: Im Süden kommt der Beschuss von der Hamas, im Norden vom Hizbullah. In seltenen Fällen steht dort Eilat, dann sind es die Huthi aus Jemen.

Ein tägliches Ritual ist das Briefing des Armeesprechers. Gefallene Soldaten werden namentlich erwähnt. Auch die Beerdigungen gehören als ein fester Bestandteil zum Programm. Es ist ein Mix aus Serviceleistung, Trauerarbeit und Therapie. «Wir kennen einen solchen Modus aus der Vergangenheit», sagt der israelische Kommunikationswissenschafter Motti Neiger. «Aber nicht über einen so langen Zeitraum und mit dem Gefühl, dass es bei diesem Krieg um die Existenz geht.» Selbst die Werbung hat ihre Slogans angepasst.

Auch waren Journalisten selber noch nie so direkt ins Geschehen involviert. Da ist der Moderator des zweiten Kanals, Danny Kushmaro. Ihn hatten am 7. Oktober im Studio in Echtzeit Notrufe von Israeli in den Schutzräumen erreicht. Er und seine Kollegen versuchten, Hilfe zu organisieren in den langen Stunden, in denen die Armee auf sich warten liess.

Da ist Roee Idan aus dem Kibbuz Kfar Azza, der als Fotograf für das Nachrichtenportal «Ynet» arbeitete. Am Morgen des 7. Oktobers filmte er die Gleitschirme der Hamas bei ihrer Landung. Er schaffte es noch, das Video in die Redaktion zu schicken, dann wurden er und seine Frau ermordet. Die vierjährige Tochter Abigail wurde verschleppt und kam als Waise zurück. Da ist auch Amir Tibon, Redaktor bei der Tageszeitung «Haaretz». Er und seine Familie konnten nach vielen Stunden im Schutzraum von seinem Vater, einem hochrangigen Offizier der Reserve, gerettet werden.

Kritik wird zum Dilemma

Der Unterton im Fernsehen ist zweifellos patriotisch. Aber es sei nicht so, dass die Medien ihre Fähigkeit eingebüsst hätten, schwierige Fragen an die Regierung zu stellen, sagt Neiger. «Ein Teil dieser Kritik wird über andere Akteure transportiert, denen man eine Bühne gibt.» Zu ihnen zählen Bürgermeister evakuierter Ortschaften in den Grenzgebieten und die Evakuierten selbst.

Viele harren noch immer in Hotelzimmern aus, zumal nicht klar ist, wie lange der Krieg in Gaza noch dauert und ob noch ein weiterer gegen den Hizbullah ansteht. Sie wollen wissen, welche langfristige Strategie der Ministerpräsident verfolgt. Andere fordern eine schnellere Aufklärung des eigenen Versagens am 7. Oktober. So haben investigative Recherchen enthüllt, dass Warnungen von Soldatinnen auf Beobachtungsposten nicht ernst genommen wurden.

Kritik ist in Kriegszeiten aber immer auch ein Dilemma. Das macht sich Kanal 14 zunutze, der als Sprachrohr des Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu gilt. Die Moderatoren werfen gerne den Journalisten der anderen drei Sender vor, dass sie den nationalen Kampfgeist unterminierten und den Feind unterstützten. Der Hizbullah-Chef Hassan Nasrallah lieferte ihnen ein Beispiel, als er sich in einer Rede explizit auf israelische Kommentatoren und ihre Einschätzungen bezog. Sie sähen ihre Armee im Sumpf von Gaza versinken, sagte Nasrallah.

Neiger sieht das als «ein Problem in jeder Demokratie, in der freie Medien über ein Kriegsgeschehen berichten». Allerdings betont er auch den Kontext, der Israel besonders macht und es etwa von den Vereinigten Staaten unterscheidet. Denn der Krieg gegen die Hamas finde direkt vor der Haustür statt, und auch gesellschaftlich gebe es keine grosse Distanz zu den Soldaten im Einsatz. «Wir sind eine Volksarmee. Das sind unsere Kinder, Freunde, Partner und Väter, die kämpfen und sterben. Das gilt für die Zuschauer genauso wie für die Journalisten im Studio.»

Die Zerstörung wird gezeigt, die Not nicht

Den Fernsehmoderatoren steht nach vier Monaten die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben. Sie erzählen weiterhin jeden Tag vor allem die Geschichten von Israeli. Journalismus sei zunächst einmal ein Dienst an der Gemeinschaft, betont Motti Neiger. In diesem Sinne würden sie in diesen besonderen Zeiten ihrem professionellen Anspruch durchaus gerecht.

Aber im Krieg gibt es auch die andere Seite. Über die Lage in Gaza wird berichtet, wenn auch äusserst begrenzt. Man zeigt die Zerstörung, vor allem aus der Sicht der Armee, aber wenig von der Not und vom Hunger der Menschen. Man sieht auch keine Leichen von Zivilisten unter den Ruinen. «Grundsätzlich zeigen unsere Medien keine expliziten Bilder von Toten. Nicht von dort und nicht von hier», sagt Neiger. Für mehr Berichte über Gaza aber fehle es auch an der Nachfrage. «Die Empathie gilt zuallererst den eigenen Leuten. Da geht schon die gesamte Energie hin, die wir noch haben.»

Waren bei früheren militärischen Konflikten mit der Hamas oftmals Telefongespräche mit Palästinensern in Gaza in die Fernsehstudios übertragen worden, sind solche Verbindungen jetzt nicht mehr vorhanden. Manchmal sieht man kurze Interviews mit ganz normalen Menschen auf der Strasse, die vor der Kamera die Hamas verfluchen. «Das gibt uns dann in gewisser Weise recht. So etwas zeigt aber auch, dass nicht alle Palästinenser mit der Hamas gleichzusetzen sind», sagt Neiger.

Die Kluft zwischen der Innen- und der Aussenwahrnehmung ist gross. Viele Israeli fürchten, dass die Welt nicht mehr auf Israel schaut und inzwischen nur mehr mit den Palästinensern sympathisiert. «Es hilft uns nicht, dass wir hier in einer völlig anderen Dimension leben und man woanders ein ganz anderes Bild der Realität präsentiert bekommt», sagt die Fotografin Anat Saragusti. Sie hat die Ausstellung «Local Testimony» in Tel Aviv kuratiert, die einen umfassenden Blick auf die Ereignisse des vergangenen Jahres hätte werfen sollen. Nach dem 7. Oktober musste alles neu gedacht werden. Ein Teil ist jetzt nur dem Krieg gewidmet. Am Anfang steht das Video mit den Gleitschirmen von Roee Idan.

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