Freitag, Februar 21

Unter den vier Toten sind wohl auch die beiden Bibas-Kinder, um die das ganze Land seit Monaten bangt. Derweil neigt sich die erste Phase der Waffenruhe dem Ende zu – nach wie vor ist unklar, ob es eine zweite Phase geben wird.

251 Flaggen. Für jede Person, die die Hamas am 7. Oktober 2023 entführt hat, hängen Freiwillige auf dem «Platz der Geiseln» am frühen Donnerstagmorgen eine Israel-Flagge mit einer gelben Schleife in der Mitte auf – das Symbol der Geiselfamilien. Auf dem Platz im Zentrum von Tel Aviv ist es heute still. Bei den vergangenen Geiselübergaben hatten sich um diese Uhrzeit hier schon viele Menschen versammelt, um die Freilassung live auf der grossen Leinwand zu verfolgen und in Jubel auszubrechen, sobald die Verschleppten nach Israel zurückkehrten.

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Nun ist fast niemand da. Diesmal werden keine Fernsehbilder auf der Leinwand übertragen. Niemandem ist zum Jubeln zumute. «Es ist ein schwarzer Tag für ganz Israel», sagt Sofia Vilencik. Die 32-Jährige stammt ursprünglich aus Weissrussland und lebt seit zehn Jahren in Tel Aviv. Sie ist heute trotz allem zum «Platz der Geiseln» gekommen. «Um mit der Trauer nicht allein zu sein», sagt sie. «Denn heute kehren die Bibas-Kinder tot zurück – es ist ein Moment, in dem es einem das Herz zerreisst.»

Wie viele Israeli hat Sofia Vilencik bis zuletzt noch daran geglaubt, dass Shiri, Kfir und Ariel Bibas am Leben sind. Kfir war erst neun Monate alt, als die Terroristen die Familie aus dem Kibbuz Nir Oz entführten. Die Bibas-Familie ist zu einem Symbol der Grausamkeit der Hamas und des Geiseldramas geworden.

Ein Kampf der Narrative

Die Hamas hatte zuvor mitgeteilt, dass es sich bei den Toten, die sie an diesem Tag an Israel übergeben würde, um die drei Mitglieder der Familie Bibas sowie den 83-jährigen Oded Lifshitz handelt. Am Mittwochabend hatten die israelische Armee und das Büro von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu mitgeteilt, dass diese Namen auf der Liste der Terrororganisation stünden. Zweifelsfrei ist ihre Identität noch nicht bestätigt. Kurz nach der Mitteilung der Behörden protestierten Angehörige der Familie Bibas: Sie hatten der Veröffentlichung der Namen nicht zugestimmt.

Laut der Hamas soll Shiri Bibas mit ihren zwei Kindern bei einem israelischen Luftangriff im November 2023 getötet worden sein. Israel hatte den Tod bisher nicht bestätigt. Die sterblichen Überreste werden nun in einem forensischen Institut nahe Tel Aviv identifiziert. Schon jetzt ist ein Kampf der Narrative um die Umstände ihres Todes entbrannt.

Die Hamas nutzte die Übergabe der getöteten Geiseln für eine makabre Propagandashow. Auf einer Bühne war ein antisemitisches Plakat aufgestellt, das Netanyahu als Vampir zeigte, der das Blut der getöteten Familie Bibas trinkt. Dann wurden die vier Särge vorgeführt, die offenbar die Überreste der Geiseln beinhalten. Darauf hatte die Hamas Bilder der Toten geklebt und geschrieben, sie seien von der israelischen Armee getötet worden.

Im israelischen Fernsehen wurde bei Shiri, Kfir und Ariel Bibas allerdings nicht von getöteten, sondern von ermordeten Geiseln gesprochen. Noch ist aus israelischer Sicht nicht zweifelsfrei geklärt, wie sie ums Leben gekommen sind. Die Identifizierung der Leichen wird laut den Behörden bis zu 48 Stunden dauern – die Forensiker dürften sehr genau überprüfen, ob sich nicht doch Hinweise auf Schusswunden oder ähnliche Spuren finden lassen, die auf eine Ermordung durch die palästinensischen Terroristen hindeuten.

Keine Verhandlungen über zweite Phase der Waffenruhe

Im Austausch gegen die vier getöteten Geiseln soll Israel am Samstag mehrere hundert palästinensische Gefangene freilassen. An diesem Tag sollen zudem sechs israelische Geiseln freikommen. Es sind die letzten der insgesamt 25 lebenden Geiseln, die im Rahmen der ersten Phase der Waffenruhe zurückkehren. Das Abkommen hatte zunächst vorgesehen, dass die Hamas nur drei Geiseln freilassen sollte, die übrigen drei am Samstag darauf. Diese Woche hatten sich Israel und die Hamas allerdings auf eine Beschleunigung der Übergabe geeinigt.

Im Gegenzug soll Israel am selben Tag unter anderem 47 hochrangige Hamas-Mitglieder freilassen, die bereits 2011 in einem Austausch mit Israel auf freien Fuss gekommen waren, seitdem allerdings wieder verhaftet wurden. Laut einem Bericht des Nachrichtenportals Axios soll vor allem die Hamas auf die Beschleunigung des Austausches gedrängt haben. Offenbar fürchtet die Terrororganisation, dass die Waffenruhe schon nach dem Ende der ersten Phase kollabieren könnte.

Ernsthafte Verhandlungen über die zweite Phase, die einen kompletten israelischen Rückzug aus dem Gazastreifen sowie ein dauerhaftes Ende des Krieges beinhalten soll, haben laut Medienberichten noch nicht stattgefunden. Eigentlich hätten die Gespräche gemäss der Vereinbarung bereits vor rund drei Wochen beginnen sollen. Die Hamas teilte diese Woche mit, sie sei bereit für die Verhandlungen und bot sogar an, alle noch verbleibenden Geiseln auf einmal freizulassen, falls Israel dem Fortgang zur zweiten Phase in der kommenden Woche zustimme.

Israels Aussenminister Gideon Saar kündigte am Dienstag an, dass die Verhandlungen um die zweite Phase noch diese Woche beginnen würden. Ministerpräsident Netanyahu hat laut israelischen Medienberichten gefordert, dass die Hamas ihre Waffen niederlegen müsse und künftig keine politische Rolle im Gazastreifen mehr spielen dürfe. Dies sei eine israelische Bedingung in den Verhandlungen um die zweite Phase.

Die Hamas verspricht sich offensichtlich das Gegenteil: Mit einem Kriegsende und dem kompletten Abzug der israelischen Truppen will sie ihr Überleben retten. Ihr Angebot, alle Geiseln auf einmal freilassen zu wollen, scheint ebenfalls diesem Zweck zu dienen. Wie Netanyahu beide Kriegsziele Israels – die Rückkehr aller Geiseln und die Zerschlagung der Hamas – gleichzeitig erreichen will, bleibt unklar.

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