Mittwoch, Oktober 9

Länder wie Pakistan oder Afghanistan bestrafen den Abfall vom Islam hart. Das ist ein starkes Argument im Asylprozess. Und lässt sich von angeblichen Konvertiten missbrauchen.

Als Baran Serdar* in einem mit Flüchtlingen überfüllten Schlauchboot Todesängste hat, sieht er zum ersten Mal das Wirken von Jesus. Ein Sturm umtost das kleine Schiff auf dem Weg über das Meer. Da steht ein anderer Mann auf und sagt: «Ich habe gebetet.» Plötzlich kommt die Sonne hervor, die Passagiere, die eben noch geweint haben, entspannen sich. Das Boot kommt sicher in Griechenland an.

So erzählt es Serdar später, als er in der Schweiz eintrifft und ein Asylgesuch stellt. Er habe den Mann gefragt, zu wem er gebetet habe. Und dieser antwortete: «Zu Jesus, der die Menschen liebt und immer bei ihnen ist.»

Serdar ist ein Kurde und stammt aus Iran. Nachdem das Regime seinen Bruder ermordet hatte, nahm er an einer Demonstration teil. Dabei wurde eine iranische Flagge verbrannt, aus diesem Grund steckte man Serdar für zwei Jahre ins Gefängnis. Als er wieder frei war, flüchtete er aus dem Land.

Serdar kommt ins Bundesasylzentrum in Kreuzlingen, dann in ein Asylzentrum im Kanton Zürich, dann in eine Flüchtlings-WG. Er beginnt, jeden Sonntag in die Kirche zu gehen und im Neuen Testament zu lesen. Er findet, dass die Leute in der Kirche so nett zu ihm seien, und glaubt, es liege an ihrem Glauben und ihrer Beziehung zu Jesus. 2018 kehrt er dem Islam endgültig den Rücken und lässt sich taufen.

Glaubenswechsel als Asylgrund?

Seit einigen Jahren bekommt es das Schweizer Asylsystem vermehrt mit Flüchtlingen wie Serdar zu tun. Unter den vielen Menschen, die ab 2015 vor dem Islamischen Staat im Irak und in Syrien oder aus der iranischen Theokratie flohen, waren auch solche, die bereits zum Christentum konvertiert waren. Oder dies später taten: während der Flucht oder im Land, wo sie schliesslich Unterschlupf fanden.

Für die Schweiz wie für andere westliche Staaten stellt sich die Frage, inwiefern ein Glaubenswechsel einen Grund für Asyl oder zumindest eine vorübergehende Aufnahme darstellt. Denn klar ist, dass manchen Konvertiten bei einer Ausschaffung in ihr Herkunftsland ein schlimmes Schicksal blüht. In vielen islamischen Ländern werden Christen systematisch diskriminiert und verfolgt.

Ein besonders schlimmes Vergehen ist der Abfall vom Islam: Mindestens zehn Länder, darunter Iran, Afghanistan, Saudiarabien und Nigeria, verhängen dafür die Todesstrafe. Doch wie lässt sich feststellen, wie gross die Gefahr im konkreten Einzelfall wirklich ist? Und wie lässt sich überprüfen, ob eine Konversion real ist – oder ob ein Flüchtling sie nur vortäuscht, um sich Asyl zu erschleichen?

Ein Ex-Muslim, der weiss, wovon er spricht

Mit solchen Themen befasst sich Egzon Shala. Er ist diplomierter Migrationsfachmann und arbeitet bei der Beratungsstelle für Integrations- und Religionsfragen der Schweizerischen Evangelischen Allianz (SEA). Shala weiss, wovon er spricht. Auch er war einst Flüchtling. Und Muslim.

1999, da war er neun Jahre alt, flüchtete seine Familie vor der serbischen Aggression aus Kosovo. Zuerst gingen sie nach Deutschland, 2004 dann in die Schweiz. Hier kam Shala über Freunde in eine Freikirche und konvertierte 2008 – zum Entsetzen seiner Familie und seiner albanischen Freunde.

Aufgrund seiner Erfahrungen kann sich Shala gut in die jungen Iraner oder Afghanen hineinversetzen, die in die Schweiz kommen. Und sich hier oft entwurzelt fühlen. Viele Kirchen, insbesondere die Freikirchen, sehen es als eine zentrale Aufgabe, sich um diese Flüchtlinge zu kümmern: Sie versorgen sie mit Lebensmitteln, organisieren Sprachkurse oder Einführungen in die schweizerische Mentalität. Ist diese Hilfe selbstlos – oder geht es dabei auch ums Missionieren? «Wir dürfen nie die Not der Menschen ausnützen, um sie bekehren zu wollen», sagt Shala.

Das SEM hat keine Zahlen

Dem Staatssekretariat für Migration (SEM) liegen keine Zahlen darüber vor, wie viele Flüchtlinge eine Konversion geltend machen, um in der Schweiz bleiben zu können. Denn das SEM erfasst laut einem Sprecher weder die Konfessions- oder Religionszugehörigkeit von Asylsuchenden noch deren Fluchtgründe.

Das sei gar nicht praktikabel, schrieb der Bundesrat in der Stellungnahme zu einer Motion des früheren SVP-Nationalrats Roger Köppel: Es gebe oft eine Überschneidung zwischen verschiedenen Arten der Verfolgung – etwa religiös, ethnisch und politisch. «Eine eindeutige statistische Erfassung ist daher nicht möglich.»

Egzon Shala sagt, die Beratungsstelle der Evangelischen Allianz wisse von Hunderten von konvertierten Flüchtlingen in der Schweiz. Jene wie Baran Serdar, die erst hier zum Christentum gefunden hätten, seien dabei die Ausnahme. Die grössere Gruppe bilden Personen, die bereits in ihrem Herkunftsland konvertiert sind – und häufig auch deshalb geflohen sind. Es sind Geschichten wie jene von Mervan Sheridan*.

Konvertit sein reicht nicht

Wie Serdar ist er iranischer Kurde. Er habe schon länger am Islam gezweifelt und sei durch Freunde in Kontakt mit dem christlichen Glauben gekommen, so erzählte er es später den Schweizer Behörden. 2013, da war er 41-jährig, habe er konvertiert. Die Familie konnte seinen Abfall vom Islam nicht akzeptieren und verstiess ihn. Zwei Onkel, die für die Behörde arbeiteten, bedrohten ihn. Im Frühling 2015 durchsuchten Beamte sein Haus, als er nicht da war. Sie hatten einen Haftbefehl gegen ihn, beschlagnahmten religiöse Schriften, seinen Computer und den Pass.

Kurz darauf verliess Sheridan Iran. Im August 2015 bat er in der Schweiz um Asyl. Doch 2019 kam der Schock: Das SEM lehnte sein Gesuch ab. Die Schweizer Behörden zweifelten an der Wahrheit seiner Erzählung, aber auch daran, dass eine Rückkehr in seine Heimat für ihn wirklich unmöglich ist.

Laut Rechtsprechung muss eine betroffene Person aufgrund der Konversion «ernsthaften Nachteilen» ausgesetzt sein – das ist der Fall, wenn es eine Gefährdung des Leibes, des Lebens oder der Freiheit gibt oder wenn unerträglicher psychischer Druck besteht. «Die Schwelle hier ist hoch», sagt Sarah Progin, Professorin an der Universität Freiburg und Expertin für Migrationsrecht. Denn die Verfolgung muss gezielt und noch aktuell sein, das heisst, die Behörden des Herkunftsstaates müssen insbesondere von der Konversion Kenntnis haben.

Machtwort aus Strassburg

Dass Konvertiten im Asylprozess grundsätzlich nicht unbedingt gute Karten haben, beobachtet auch Egzon Shala. Für Aufsehen sorgte 2022 der Fall eines Pakistaners, der 2015 Asyl beantragt hatte und 2016 in einer mennonitischen Kirche getauft worden war. Er musste bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gehen, um recht zu bekommen: Die Schweiz darf ihn nicht abschieben.

Die hiesigen Gerichte hätten sich nicht genügend mit den neuen religiösen Überzeugungen des Mannes auseinandergesetzt und die Gefahren, die ihm drohten, zu wenig konkret ausgeleuchtet, tadelte der EGMR. Auch sei unklar geblieben, wie der Konvertit seinen Glauben in seinem Heimatland ausleben könnte.

Das SEM betont in einem generellen Statement, es orientiere sich an den Empfehlungen des Uno-Hochkommissariats für Flüchtlinge sowie an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesverwaltungsgerichts. Bei der Beurteilung der Asylgesuche analysiere man die Situation im Herkunftsland und trage der Lageentwicklung laufend Rechnung.

Kritik von der reformierten Kirche

Die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) setzt sich in einem Papier vom Juni 2023 kritisch mit der Praxis des SEM auseinander, die aus ihrer Sicht zu restriktiv ist: Religiöse Flucht- und Schutzeigenschaften würden von rechtlicher Seite fast vollständig ausgeblendet, heisst es dort.

Die reformierte Kirche betont, der Staat könne das Motiv der Konversion und die Ernsthaftigkeit des Taufwillens nicht beurteilen. Diese Elemente dürften deshalb beim Asylentscheid keine Rolle spielen. Selbst wenn ein muslimischer Flüchtling aus rein taktischen Gründen konvertiert, ist das aus Sicht der EKS kein Grund, ihn in sein Heimatland zurückzuschicken.

Denn auch durch eine «unechte» Konversion kann sich eine Person reell in Gefahr bringen – etwa, wenn sie sich demonstrativ in den sozialen Netzwerken zum Christentum bekennt. Die Juristin Progin sagt, in einem solchen Fall wäre zu prüfen, ob bereits eine vorgetäuschte Konversion zu «erheblichen Nachteilen» führe.

Falschen Konvertiten auf die Spur kommen

Egzon Shala sieht das Phänomen der falschen Konversionen etwas anders als die reformierte Kirche. «Wir wollen nicht, dass Flüchtlinge einfach etwas vorgaukeln, um ihre Chancen im Asylprozess zu erhöhen – auch wenn das nur selten passiert. Wir müssen jenen konvertierten Christen helfen, die wirklich bedroht sind.» Shala geht mit dem SEM einig, dass eine lediglich formelle Konversion ohne Hinweise auf die innere Überzeugung nicht ausreicht.

Er und sein Team haben deshalb einen Leitfaden erstellt, der den Mitarbeitenden des SEM helfen soll, die Ernsthaftigkeit der Konversion besser zu überprüfen. Shala sagt, man solle nicht Bibelwissen oder theologische Themen abfragen. «Ein neu konvertierter Christ kennt nicht unbedingt die Zehn Gebote oder die Namen der zwölf Apostel auswendig.»

Stattdessen sollten die Behörden auf die persönliche Glaubensgeschichte und -praxis des Asylsuchenden fokussieren: Was hat sein Interesse an Jesus ausgelöst? Wie hat sich sein Leben dadurch verändert? Wie und warum betet er? Geht er regelmässig in die Kirche? Könne jemand diese Punkte glaubwürdig beschreiben, handle es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine «echte» Konversion, sagt Shala.

Konversion hat hohen Preis

Skeptisch wird Shala hingegen, wenn jemand behauptet, er habe sich nach wenigen Wochen taufen lassen. «Die Konversion ist ein innerer Prozess, der selten von heute auf morgen passiert. Es ist eine Entscheidung, die gut vorbereitet sein will, weil sie für viele zu Nachteilen und Verfolgung führt.»

Die Rechtsprofessorin Progin betont, die Glaubhaftmachung der religiösen Überzeugung sei insgesamt sehr schwierig. «Der Glaubenswechsel muss jedenfalls ernsthaft und nachhaltig erscheinen.» Das Missbrauchspotenzial schätzt sie hingegen als nicht übermässig hoch ein.

Dies nicht nur, weil das SEM bei Konversionen strenge Massstäbe anlege. Sondern auch, weil die Hemmschwelle, sich zu einer Konversion zu bekennen, «in bestimmten Communitys» hoch sei. Denn der Glaubensabfall sei, ähnlich wie ein Comingout als Homosexueller, mit Stigmatisierung verbunden. Sprich: Mit einer Konversion erhöht ein Flüchtling aus einem muslimischen Land vielleicht seine Chancen auf Asyl. Er riskiert aber auch, in der Diaspora seiner Landsleute zum Geächteten zu werden.

Lehnt das SEM den Asylantrag eines Bekehrten ab, muss es prüfen, ob die Schweiz den Flüchtling vorläufig aufnehmen soll – oder ob eine diskrete Ausübung der Religion im Heimatland möglich ist. Aus Sicht von Egzon Shala bejahen die Behörden die letzte Frage zu oft. Man könne von konvertierten Christen nicht verlangen, dass sie ihren Glauben im stillen Kämmerchen ausübten, findet er.

Schwierig zu verstecken

«Das Christentum ist eine Religion, die man in der Gemeinschaft lebt. Und das Risiko, dass sich ein Ex-Muslim als Christ ‹outet›, ist auch sonst sehr gross.» Sein Umfeld bemerke die Veränderung oft schnell – sei es durch sein neues Verhalten, das Fehlen typisch islamischer Begrüssungsformeln oder das Auslassen des Freitagsgebets. Die Juristin Progin weist ebenfalls darauf hin, dass das private Umfeld eine Gefahr für die Konvertiten sein könne – insbesondere, wenn fanatische Muslime zu den Familienangehörigen gehörten.

Für die beiden Konvertiten aus Iran ist die Gefahr einer Ausweisung mittlerweile gebannt. Baran Serdar hat nach sieben Jahren in der Schweiz ein Härtefallgesuch gestellt und kürzlich einen positiven Bescheid erhalten. Und Mervan Sheridan hat 2021 wegen seiner Konversion eine Aufenthaltsbewilligung als Flüchtling bekommen.

* Namen geändert.

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