Freitag, Januar 17

Anthony Anex / Keystone

Sie fand die hellsten Flecken am Nachthimmel, entdeckte Schwarze Löcher und zeichnete eine genaue Karte der Milchstrasse. Eine der für die Wissenschaft wertvollsten Weltraumsonden der ESA wird ausser Dienst gestellt. Ein Nachruf.

Auf den ersten Blick sieht sie aus wie ein überdimensionierter, altmodischer Zylinderhut. 1,5 Millionen Kilometer von der Erde entfernt schwebt die Weltraumsonde Gaia im All, dreht sich langsam um sich selbst und schiesst Fotos. So hat die Sonde der europäischen Weltraumbehörde ESA elf Jahre lang unsere Galaxie, die Milchstrasse, vermessen. Wie viele Sterne sind eigentlich da draussen, wie bewegen sie sich, und was lernen wir daraus über ihre und unsere Vergangenheit – und Zukunft? Gaias Messungen haben viele Fragen beantwortet und Wissenschaftern zu verblüffenden Erkenntnissen verholfen. Jetzt ist ihr Tank leer. Am Mittwoch schoss Gaia die letzten Bilder ihrer Karriere.

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Astrometrie: Die Kartierung des Himmels

Die Bewegung der Sterne am Himmel faszinierte die Menschen wohl schon immer. Bereits 1000 vor Christus zeichneten die Babylonier die Bahnen von Hunderten Sternen auf, die sie mit blossem Auge am Nachthimmel beobachten konnten. Die Astrometrie, die Vermessung der Sterne, ist eine der ältesten Wissenschaften überhaupt.

Als Lennart Lindegren und Michael Perryman der ESA 1993 die Weltraumsonde Gaia als neues Grossprojekt vorschlugen, standen sie daher in einer langen Tradition. Gaia sollte diese Bewegungen der Sterne vermessen, genauer und ausführlicher als je ein Instrument vor ihr. Das Ziel: eine dreidimensionale Karte unserer direkten Nachbarschaft im All.

Zwanzig Jahre und 740 Millionen Euro später hob Gaia tatsächlich ab. An Bord zwei Teleskope, eine optische Kamera, ein Fotometer und ein Spektrometer. Die Instrumente erlauben ihr, die Position, Helligkeit und Bewegung von Sternen zu messen. Eine Milliarde Objekte in unserer Milchstrasse sollte Gaia damit beobachten: Sterne, Planeten, Monde, Asteroiden – und sogar Schwarze Löcher.

Dazu schickte man Gaia an einen ganz besonderen Ort. Statt wie das Hubble-Teleskop oder Telekommunikationssatelliten ständig um die Erde zu kreisen, verharrte Gaia am sogenannten Lagrange-Punkt 2. Diesen besonderen Punkt im Weltraum teilt sich Gaia unter anderem mit dem James-Webb-Teleskop. Denn hier halten sich die Anziehung der Erde und der Sonne die Waage, und eine Sonde braucht nur wenig Energie und Treibstoff, um hier zu bleiben. Von hier aus richtete Gaia ihren Blick seit 2014 in die mit Sternen gesprenkelte Nacht. Ab und zu benutzte sie noch einen kleinen Schluck Treibstoff, um sich um ihre eigene Achse zu drehen und bestimmte Bereiche des Himmels in den Fokus zu nehmen. Insgesamt hat Gaia sich dazu 15 300 Mal um sich selbst gedreht.

Die Gaia-Mission war ein grosser Erfolg

In ihren 3827 Diensttagen hat Gaia ihre Ziele bei weitem übertroffen. Pro Tag sendete sie 50 Gigabyte Daten zur Erde. Mit dem Ende ihrer Mission werden die Forscher über ein Petabyte an Daten gesammelt haben – eine Informationsmenge, die knapp auf 200 000 DVD Platz hätte.

«Gaias Aufgabe war es, einen Katalog zu erstellen», sagt der Astrophysiker Sascha Quanz von der ETH Zürich. «Das klingt nicht so aufregend wie die phantastischen Bilder von James Webb und Hubble, aber es ist der beste Katalog von Objekten aus der Milchstrasse. Die präzise Bewegung und Position dieser Objekte zeigen uns, wie die Galaxie entstanden ist.»

Gaia lieferte eine Datenbank. «Keine Frage, marketingmässig hat Gaia es damit schwieriger als James Webb», sagt Quanz. Doch wissenschaftlich muss sich Gaia nicht verstecken. In der Datenbank beschrieben sind 3 Billionen Observationen von mehr als 2 Milliarden Sternen und anderen Himmelsobjekten. Darunter fand Gaia auch eine Kategorie von Schwarzen Löchern und zeigte die Umlaufbahnen von 150 000 Asteroiden.

Dreimal wurden bisher Daten von Gaia veröffentlicht. Jeder der Datensätze ist frei für alle Wissenschafter verfügbar, unabhängig von Grösse, Kaufkraft und Nationalität der Wissenschafter. So ist es wenig verwunderlich, dass eine enorme Anzahl wissenschaftlicher Publikationen auf Basis der Daten geschaffen wurden. Ganze 13 000 sind es bereits, und ständig kommen mehr hinzu.

The best Milky Way animation, by Gaia

Viele der Ergebnisse waren für die Wissenschaftswelt überraschend. Daten von Gaia haben zum Beispiel gezeigt, dass die Milchstrasse 2 Milliarden Jahre älter ist, als man annahm. Die Astronomen Maosheng Xiang und Hans-Walter Rix vom Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg zeigten mithilfe des dritten Gaia-Datensatzes, dass Teile der Milchstrasse sich bereits vor 13 Milliarden Jahren formten.

Auch zum Ursprung der Form der Milchstrasse liefert Gaia Hinweise. Unsere Galaxie sieht aus wie ein dicker Pfannkuchen, der auf der einen Seite vom Pfannenrand aufgebogen wurde und auf der anderen Seite nun vom Tellerrand herunterhängt. Die 3-D-Karte von Gaia zeigte auf, dass ihre Ausrichtung sich mit der Zeit ändert, wie bei einem Kreisel, der sich um seine eigene Achse dreht.

Eine weitere Bewegung der Milchstrasse zeigte eine Forschergruppe rund um Andreas Burkert von der Ludwig-Maximilians-Universität in München und João Alves von der Universität Wien. Der Arm der Milchstrasse, in dem sich unser Sonnensystem befindet, bewegt sich laut ihrer Studie wellenförmig auf und ab. Diese Oszillation bewegt sich vom Kern der Galaxie hin nach aussen. Die Forschung zeigte, dass auch unsere Erde vor 13 Millionen Jahren die sogenannte Radcliffe-Welle gesurft hat – mit noch nicht näher erforschten Folgen.

Gaia blickte auch über die Galaxie hinaus

Mit der Zeit schweifte Gaias Blick auch über den Rand unserer Galaxie hinaus. Mithilfe der Sonde erstellten Wissenschafter eine dreidimensionale Karte von über 1,3 Millionen Quasaren. Quasare gehören zu den hellsten und energiereichsten Objekten am Nachthimmel. Es handelt sich dabei um supermassereiche Schwarze Löcher, in deren Umgebung die Materie so stark erhitzt wird, dass sie elektromagnetische Strahlung freisetzt und heller leuchtet als ganze Galaxien.

Was von Gaia übrigbleibt

Auch wenn Gaias Beobachtung des Weltraums nun abgeschlossen ist, wird die Auswertung der Daten noch lange weitergehen. 2026 erwartet die Forschung die Veröffentlichung des nächsten Datensatzes «Gaia Data Release 4» mit über 500 Terabyte Daten. Ein weiterer Datensatz soll der Wissenschaft Ende des Jahrzehnts zur Verfügung stehen. «Es handelt sich dabei nicht nur um ein Update der bereits verfügbaren Daten», stellt Sascha Quanz klar: «Der nächste Datensatz enthält zum Beispiel wichtige Informationen für die Erforschung von Exoplaneten, denn nur wenn der Katalog präzise genug ist, können wir diese nachweisen.»

Bevor Gaia sich für immer verabschiedet, wird sie in den kommenden Wochen noch ein letztes Mal hell aufleuchten, während die ESA letzte Tests durchführt. Hobbyastronomen können sie dann mit einem Teleskop noch ein letztes Mal am Nachthimmel sehen.

Anschliessend begibt sie sich in ihren wohlverdienten Ruhestand. Mit den letzten Resten Treibstoff wird die ESA die Raumsonde auf einen Weltraumfriedhof in eine abgelegene Sonnenumlaufbahn manövrieren. Voraussichtlich am 27. März gehen bei Gaia die Lichter aus. Die Wissenschaft sagt Danke.

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