Donnerstag, Januar 30

Einst war der Viktoriasee ein Hort der Artenvielfalt. Doch ausgesetzte Nilbarsche wälzten das ganze Ökosystem um: Hunderte Fischarten verschwanden. Nun haben Forscher einen Teil davon wiederentdeckt. Wie geht es dem Traumsee im Osten Afrikas heute?

Knapp anderthalb Stunden vor Sonnenuntergang herrscht auf dem «Hippo Point» beste Biergartenstimmung – wie eigentlich jeden späten Nachmittag. Die kleine Halbinsel am Südrand der kenyanischen Hafenstadt Kisumu ist ein beliebtes Ausflugsziel. Unter spitzen Zeltdächern sitzen Familien bei Tisch, während aus den Holzverschlägen Rauch und der Duft von gebackenem Fisch aufsteigen. Plötzlich ist ein Prusten zu hören. Tatsächlich: ein Nilpferd. Man sieht nur die Ohren, die Augen und die Schnauze aus der trübgrauen Wasseroberfläche ragen.

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Wir schauen hier allerdings nicht auf den eigentlichen Viktoriasee, sondern nur auf den Golf von Winam, eine rund 70 Kilometer lange Bucht. Das offene Wasser beginnt erst hinter deren Mündung; von dort aus dauert die Schiffsreise zum gegenüberliegenden Ufer locker einen ganzen Tag.

Der Viktoriasee ist ein Gewässer der Superlative. Mit einer Ausdehnung von fast 69 000 Quadratkilometern steht er auf der Rangliste der flächenmässig grössten Seen der Erde an zweiter Stelle, übertroffen nur vom Lake Superior in Nordamerika. Doch Fachleute sorgen sich um die Zukunft des Sees, denn die Lebenswelt des Viktoriasees gilt seit Jahrzehnten als äusserst instabil. Manche befürchten sogar einen Kollaps des Ökosystems.

Die Folgen davon wären verheerend: An den Ufern des Viktoriasees leben, verteilt auf die drei Anrainerstaaten Tansania, Uganda und Kenya, geschätzt über 40 Millionen Menschen. Vielen von ihnen sichert der See ihre tägliche Existenz, vor allem als Nahrungs- und Erwerbsquelle. Die Fischerei ist ein zentraler Wirtschaftsfaktor. Obwohl genaue Zahlen fehlen, dürften gemäss Experten bis zu 4 Millionen Personen in der Branche tätig sein. Die jährlichen Fangerträge am Viktoriasee werden auf zirka eine Million Tonnen beziffert. Das Gewässer ist damit auch, nach seinem Pendant am Mekong, der zweitgrösste Süsswasserfisch-Lieferant der Welt.

Ungeklärte Abwässer von Millionen Menschen

Forscher sind aus mehreren Gründen beunruhigt: Zum einen sei da die Wasserverschmutzung, erklärt der Fischereiökologe Chrispine Nyamweya vom Kenya Marine and Fisheries Research Institute (KMFRI) in Kisumu. Jeden Tag landen die Abwässer von Millionen Menschen ungeklärt in diesem See oder dessen Zuflüssen. Solche Belastungen treiben bekanntlich die gefürchtete Eutrophierung an, die leicht zu Algenblüten, Sauerstoffmangel und Fischsterben führen kann.

Gleichzeitig gibt es eine anhaltende Debatte zum Thema Überfischung. Es werde zu viel mit zu engmaschigen Netzen gearbeitet, vor allem in den flachen Uferbereichen, sagt Nyamweya. «Diese destruktive Fischerei müssen wir als Erstes beenden.»

Der Naturreichtum des Sees hat jedoch auch durch andere Eingriffe gewaltige Umbrüche erlebt. Das riesige Gewässer war gewissermassen eine Schatzkammer der Evolution. Buntbarsche aus der Gruppe der Haplochrominen erreichten hier eine verblüffende Artenvielfalt. Bis zu 800 verschiedene Spezies könnten es gewesen sein, glauben Wissenschafter.

Diese Biodiversität kam vermutlich mithilfe einer urzeitlichen Katastrophe zustande. Der Viktoriasee ist nämlich nicht besonders tief; im Durchschnitt nur 40 Meter, an der tiefsten Stelle rund 85 Meter. Vor über 16 000 Jahren scheint er komplett ausgetrocknet gewesen zu sein. Als sich das Becken anschliessend wieder mit Wasser füllte, fanden einwandernde Vorfahren der Haplochrominen einen offenbar dünn besiedelten Lebensraum vor; kaum Raubfische, wenig Konkurrenz durch andere Arten. Die Buntbarsche konnten sich frei entfalten und schrittweise fast jede verfügbare ökologische Nische besetzen. So kam es zu dem, was Evolutionsbiologen eine adaptive Radiation nennen: neuen Arten in Hülle und Fülle.

Optimierte Fischerei in europäischem Sinne

Für die lokale Bevölkerung waren die Massen an Buntbarschen und weitere heimische Fischspezies wie der Viktoria-Tilapia stets eine zuverlässige Nahrungsquelle. Mitte des 20. Jahrhunderts kamen in der britischen Kolonialverwaltung allerdings andere Ideen auf. Man wollte die Fischerei auf dem Viktoriasee im europäischen Sinne optimieren. Die vielen, eher kleinen Buntbarsche und Tilapias passten da nicht ins Konzept. Sie seien als wertlos betrachtet worden, erklärt Kevin Obiero, Sozialökonom am KMFRI. «Aber das war nur die Perspektive der Kolonialherren.»

Die Briten schmiedeten daraufhin den Plan, Nilbarsche im See auszusetzen. Diese bis zwei Meter langen Raubfische, zoologisch unter dem Namen Lates niloticus bekannt, sollten die heimischen Arten fressen und sie praktisch in wertvolleres, weil Filet-fähiges Nilbarschfleisch umwandeln. Ende der 1950er Jahre wurden die ersten Exemplare, wahrscheinlich in der Nähe von Entebbe im heutigen Uganda, freigelassen.

Das Vorhaben gelang. Die Nilbarsche gediehen gut im Viktoriasee; sie vermehrten sich und vertilgten tatsächlich Unmengen an Buntbarschen. Doch die Neuankömmlinge wälzten damit auch das gesamte Ökosystem um. Die Bestände an heimischen Fischen schwanden rapide. Ab Mitte der achtziger Jahre schien schliesslich der ganze See von Nilbarschen und zwei ebenfalls eingeführten Tilapia-Arten dominiert zu sein. Wissenschafter sahen die Buntbarsche kurz vor dem Aussterben, ein für die Natur katastrophaler Verlust.

Der niederländische Biologe und Schriftsteller Tijs Goldschmidt beschrieb die Veränderungen in seinem berühmten Buch «Darwins Traumsee». Zur gleichen Zeit wurden Nilbarsch-Filets ein erfolgreiches Exportprodukt. Gekühlt gelangte die Ware per Flugzeug gleich tonnenweise nach Europa. Umstritten blieb gleichwohl, inwiefern die Menschen am See von der neuen Fischerei und dem damit verbundenen, internationalen Handel profitierten.

2004 erschien der Dokumentarfilm «Darwins Alptraum» des österreichischen Regisseurs Hubert Sauper. Das Werk wirft einen sehr kritischen Blick auf die damalige Situation. Wie zu Kolonialzeiten würden wertvolle Güter in die reichen Länder verfrachtet, und die wirtschaftlichen Gewinne kämen auch nur einigen wenigen zugute, so lautet das Fazit. Der Bevölkerung vor Ort bleiben vom kostbaren Fisch nur die Köpfe und die Gräten.

Heute, 35 Jahre nach der Veröffentlichung von «Darwins Traumsee», ist die Debatte noch immer nicht abgeklungen. «Es gibt diesbezüglich zwei Strömungen», sagt der Sozialökonom Obiero. «Eine sieht den Nilbarsch als wirtschaftlichen Retter.» Für die andere dagegen gilt die Spezies als ökologische Katastrophe. «Meiner Meinung nach hat der Nilbarsch einen grossen, positiven ökonomischen Einfluss.»

Die Macher von «Darwins Alptraum» hätten keine ausgewogene Sicht auf alle Aspekte der Nilbarschfischerei gehabt, meint Obiero. Dass die Fischereiindustrie nicht ohne ein gesundes Ökosystem florieren kann, steht für ihn allerdings ausser Frage. «Die Verschlechterung der Wasserqualität ist auch für die Nilbarschbestände eine grosse Bedrohung», betont Obieros Kollege Patrick Otuo.

Bis zu 250 ausgestorbene Arten

Eine interessante Entwicklung lässt sich derweil bei den Buntbarschen beobachten. Ende der achtziger Jahre waren diese praktisch verschwunden, wie Ole Seehausen vom Wasserforschungsinstitut Eawag und der Universität Bern aus eigener Erfahrung berichtet. 1991 tauchten dann die ersten wieder auf. Heute hätten die Buntbarschbestände mengenmässig ungefähr ihre alte Grösse erreicht, meint der Biologe. «Aber die Artenvielfalt ist viel geringer.» 200 bis 250 Spezies dürften ausgestorben sein, sagt der Forscher, auch wenn er und sein Team bei einer ausführlichen Suche im Jahr 2017 mehr als zehn verschollen geglaubte Arten wiederentdeckten. Es könnte also noch ein paar mehr Überlebende geben.

Die neu gewachsenen Buntbarschpopulationen indes bestehen oft aus Hybriden, die aus mehreren verschwundenen Spezies entstanden sind. Sie könnten sich schneller an die veränderten Bedingungen im See angepasst haben, vermutet Seehausen. Die Evolution, so scheint es, macht einfach im Eiltempo weiter.

«Das grösste Problem des Viktoriasees ist nicht der Nilbarsch, sondern die Wasserverschmutzung», schlussfolgert der Wissenschafter. Wenn die Einleitungen und die Zerstörung der gewässerreinigenden Ufervegetation nicht gestoppt werden, könnten sowohl die Fischerei als auch die Biodiversität in absehbarer Zeit kollabieren – mit schlimmen Folgen für Millionen Menschen.

Auch in Bezug auf die viel diskutierte Überfischung herrscht weiterhin Unklarheit. Für Christine Etiegni, Direktorin der kenyanischen Fischereibehörde (KeFS) in Kisumu, ist sie eine Tatsache. «Früher mussten die Fischer nicht so weit hinausfahren, um gute Fische zu bekommen», erzählt die Beamtin. Abgesehen davon sei die Befischungsintensität gestiegen, aber nicht die Fangmengen. Ganz im Gegenteil: In den 1990ern habe es allein in Kisumu 11 Fabriken gegeben, die Nilbarsch für den Export verarbeiteten. «Jetzt ist es nur noch eine.» Das liege am Fischmangel, sagt Etiegni.

Ihre Kollegen am KMFRI haben gleichwohl einen etwas anderen Standpunkt. «Die Biomasse der Nilbarsche ist stabil, doch die Grössenverteilung hat sich geändert», erklärt Chrispine Nyamweya. Das heisst: Die Gesamtmenge an Nilbarschen bleibe gleich; der Anteil an kleineren Exemplaren sei allerdings gewachsen. «Die Grossen werden weniger», betont der Experte.

Nyamweya stützt seine Aussage nicht auf klassische Fangstatistiken, sondern in erster Linie auf hydroakustische Erhebungen. Dazu werden per Schiff lange Strecken über den See abgefahren, während die Forscher mit Sonar alles erfassen, was unter dem Kiel durchzieht – vor allem Fischschulen. «Wir können dabei vier verschiedene Gruppen unterscheiden», sagt Nyamweya.

Neben Nilbarschen erkennen die Wissenschafter auch Buntbarsche und ähnliche Arten sowie «Omena» – kleine, silbrige Schwarmfische mit wissenschaftlichem Namen Rastrineobola argentea – und Massenansammlungen von Caridina nilotica, einer nur anderthalb Zentimeter langen Süsswassergarnelen-Spezies. Dank einer neuen Analysemethodik können die Biologen im Gewimmel unter Wasser sogar einzelne Nilbarsche ausfindig machen. Deren grosse Schwimmblase macht dies möglich, weil sie ein gutes Schallecho zurückgibt. «Wir trainieren unsere Algorithmen darauf», berichtet Nyamweya.

Schutzzonen dank teurem Treibstoff

Timo Goeschl, Umweltökonom an der Universität Heidelberg, kennt die Klagen der Fischer. Ihre angeblich zu geringen Fänge müssten aber in einem breiteren Kontext gesehen werden, erläutert der schon seit Jahren am Viktoriasee forschende Fachmann. Der Weltölpreis spiele dabei eine oft unterschätzte Rolle. Sei der Treibstoff teuer, könnten die Fischer mit ihren Motorbooten nicht so weit hinausfahren, erklärt Goeschl. Infolgedessen entstünden ungewollt Schutzzonen, in denen nicht oder kaum gefischt werde. Dort erholten sich die Bestände. Goeschl und seine Kollegen halten es deshalb sogar für denkbar, dass der Nilbarsch im See de facto optimal befischt wird. Nur würde das keiner bemerken.

Frühmorgens in Dunga Beach, einer Anlegestelle südlich von Kisumu, erscheinen solche Überlegungen ziemlich weit weg. Die Fischer bringen gerade ihre Fänge an Land. Händlerinnen drängen sich an die Boote und feilschen um die beste Ware. In vielen Körben glänzt «Omena», gemischt mit Buntbarschen und jungen Nilbarschen, deren Fang eigentlich verboten ist. Auch kleine Welse und ein paar Lungenfische werden herbeigetragen. Es ist eine magere Ausbeute; grössere Nilbarsche gibt es nur wenige. Man müsse den Teufelskreis der Armut durchbrechen, hatte Chrispine Nyamweya am Vortag betont. Und das kann nur mit der Natur statt gegen sie gelingen.

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