Ob ein Tumor in der Lunge oder im Darm entsteht, ist zweitrangig. Wichtiger ist, welchen biologischen «Charakter» er hat. Wollen wir die Krebsmedizin für die Zukunft fit machen, müssen wir das stärker beachten. Auch bei der Frage, wie wir Medikamente einsetzen und zulassen.
Petra hat Brustkrebs. Und Leon ist an Lungenkrebs gestorben – oder war es ein Tumor in der Leber? So reden wir heute über Krebserkrankungen. Auch viele Ärzte denken in diesen Kategorien. Das muss sich ändern. Denn die Herkunft eines Tumors – also ob er in der Haut oder in den Nieren entstanden ist – ist nicht so wichtig. Viel entscheidender sind die «Charaktereigenschaften» der Krebszellen. Denn sie bestimmen über die Aggressivität der Geschwulst – und damit über Leben und Tod.
Diese Eigenschaften zu kennen, ist für die Krebsmedizin matchentscheidend. Und auch ein Gebot der Stunde. Denn die Krebsfälle nehmen weltweit zu – nicht nur bei älteren Menschen, sondern auch bei jüngeren unter 50 Jahren.
Hat die Krebsmedizin also versagt? Nein, aber sie steht an einem Wendepunkt. Wird sie nicht für die Zukunft fit gemacht, kann sie ihr enormes Potenzial nicht ausschöpfen. Der beunruhigende Anstieg bei den Fallzahlen hat allerdings auch mit unserem modernen Lebensstil zu tun. Stichworte sind Bewegungsmangel, Übergewicht, ungesundes Essen, Rauchen, zu viel Alkohol. Alles erhöht beim Einzelnen das Krebsrisiko.
Weniger Menschen sterben an ihrem Krebs
Es gibt aber auch eine gute Nachricht: Heute überleben mehr Menschen ihren Krebs als noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Das liegt daran, dass Tumorerkrankungen heute früher erkannt und besser behandelt werden können. Beides hat die Heilungsaussichten stark erhöht. Aus dem sicheren Todesurteil von einst ist in vielen Fällen eine chronische, behandelbare Krankheit geworden.
Diese Entwicklung kam nicht über Nacht. Bis Ende des 19. Jahrhunderts war das Herausoperieren der bösartigen Geschwulst die einzige Behandlungsmöglichkeit. Dann kam die Strahlentherapie und in den 1950er Jahren die Chemotherapie dazu. Damit konnten Ärzte auch Krebszellen zerstören, die sich dem Skalpell des Chirurgen entziehen. Noch war die Krebsmedizin aber wenig spezifisch und verursachte teilweise schwere Nebenwirkungen.
Das änderte sich um die Jahrtausendwende fundamental. Auslöser war die erfolgreiche Entschlüsselung des menschlichen Genoms. Dieser biomedizinische Meilenstein war auch für die Krebsmedizin ein Game-Changer und läutete einen regelrechten Paradigmenwechsel ein: Hatte man bisher Krebs anhand von veränderten Zellen unter dem Mikroskop diagnostiziert, liessen sich bösartige Krankheiten nun auf Ebene der Gene und Moleküle verstehen, diagnostizieren, therapieren und möglicherweise sogar verhindern.
Wie die Tumorsequenzierung – also die Entschlüsselung des Erbguts von Krebszellen – die Onkologie präziser und schlagkräftiger gemacht hat, soll ein Beispiel illustrieren. Bei Patienten mit einer bestimmten Form von Leukämie wiesen Forscher nach, dass die meisten von ihnen ein Gen haben, das mit einem anderen Gen verschmolzen ist. Die Anomalie führt in den Zellen dazu, dass ein Biokatalysator stärker aktiv ist als normalerweise. Das löst beim Patienten die Leukämie aus. Mit Medikamenten, die den hyperaktiven Biokatalysator hemmen, konnte man die Überlebenschance bei diesem Blutkrebs dramatisch erhöhen.
Ähnliche Erfolge gibt es bei anderen Tumorkrankheiten und mit anderen Therapieansätzen. Stets hat das molekulargenetische Wissen über die Krankheit die präzise Behandlung möglich gemacht. Alle diese Ansätze zusammen haben zum Versprechen einer personalisierten Krebsmedizin geführt. Das Wort ist etwas hoch gegriffen, denn es suggeriert, dass jeder Patient eine komplett andere Behandlung braucht. Das ist heute und in den nächsten Jahren nicht nötig. Wichtiger ist, dass die Therapie auf die wesentlichen molekulargenetischen Eigenschaften der Krebszellen zugeschnitten ist. Denn sie sind die Treiber der Krebsentstehung und der Ausbreitung der Tumorzellen im Körper. Diese biologischen Treiber gilt es mit hochpräzisen Therapieansätzen auszuschalten.
Molekulare Krebstreiber halten sich nicht an Organgrenzen
In den letzten Jahren hat man gelernt, dass sich die molekularen Krebstreiber an keine Organgrenzen halten. So können die gleichen Treiber bei ganz unterschiedlichen Krebsarten wie Lungenkrebs oder Darmkrebs vorhanden sein. Oder vermeintlich gleiche Tumorerkrankungen haben ganz andere biologische Treiber.
Deshalb ist es wichtig, dass wir Krebs – wie das französische Mediziner unlängst in der Fachzeitschrift «Nature» gefordert haben – nicht mehr als Krankheit eines bestimmten Organs verstehen, sondern als Krankheit mit bestimmten Krebstreibern. Was gewöhnungsbedürftig klingt, ist durchaus umsetzbar. Denn beim einzelnen Patienten zeichnet sich der Krebs meist durch ein paar wenige relevante Treiber aus. Zudem wird die Herkunft der Krebszellen spätestens dann völlig irrelevant, wenn sie sich als Metastasen im Körper ausgebreitet haben. Das ist ein wichtiger Punkt. Denn die allermeisten Patienten, die an Krebs sterben, sterben nicht an ihrem Primärtumor, sondern an den Ablegern in anderen Organen.
Den skizzierten Paradigmenwechsel sollten alle umsetzen, die sich mit Tumorpatienten beschäftigen. So muss man sich ernsthaft fragen, wie sinnvoll noch organzentrierte Therapierichtlinien oder Institutionen wie Brustkrebszentren sind. Noch wichtiger aber sind Fragen zur Art und Weise, wie wir neue Krebsmedikamente bei Krebspatienten testen und von den Behörden registrieren lassen. Denn die alte Denkweise verhindert oft einen raschen Zugang zu lebensrettenden Medikamenten.
Dafür gibt es viele Beispiele, wie die erwähnten französischen Krebsärzte in ihrem Beitrag aufzeigen. So hatten Wissenschafter vor über zehn Jahren einen therapeutischen Antikörper bei Patienten mit ganz unterschiedlichen Krebsarten getestet. Bei einigen Probanden schrumpfte der Krebs, bei anderen nicht. Darüber entschied einzig, ob die Tumorzellen einen bestimmten Krebstreiber hatten oder nicht. Statt diesen Krebstreiber zum Kriterium für die weitere Überprüfung und Zulassung des Medikaments zu machen, testete man seine Wirksamkeit bei einer Tumorart nach der anderen. Dadurch mussten einige Krebspatienten bis zu zehn Jahre warten, bis sie den potenziell rettenden Antikörper bekamen – wenn sie in der Zwischenzeit nicht längst gestorben waren.
Dieses Problem haben die Zulassungsbehörden inzwischen erkannt und lassen heute Krebsmedikamente vermehrt auch aufgrund der molekularen Eigenschaften von Tumorerkrankungen zu. Das ist erfreulich, aber noch lange nicht genug. Denn das Problem ist laut Experten wie dem Krebsarzt und Krebsforscher Adrian Ochsenbein vom Inselspital Bern grösser. So liegt es in der Natur einer sich rasant entwickelnden Präzisionsmedizin, dass immer wieder neue Krebstreiber entdeckt werden, gegen die es auch Hemmstoffe gibt. Weil diese Substanzen aber noch nicht das ordentliche Test- und Zulassungsverfahren durchlaufen haben, können sie beim Patienten nicht eingesetzt werden: Die Wirkstoffe sind blockiert.
Kreative Lösungen für den Einsatz von Medikamenten
Um aus diesem Dilemma herauszukommen, braucht es neue, kreative Lösungsansätze. Denkbar ist etwa, dass klinische Forscher nicht mehr einzelne Medikamente an Hunderten von Patienten testen, sondern verschiedene, an kleinen Patientengruppen erprobte Behandlungsstrategien miteinander vergleichen. So könnten die Patienten rascher von einer potenziell heilenden Therapie profitieren. Neue Ideen zum Einsatz von Medikamenten sind umso dringlicher, als sich auch die Krebsdiagnostik laufend verbessert. Differenzierte Therapiemöglichkeiten werden daher immer bedeutender.
So werden heute beim Patienten die Krebstreiber in der medizinischen Routine erst auf Ebene des Erbguts (DNA) bestimmt. Dies wird anhand von mehreren hundert Genen gemacht. Es ist absehbar, dass weitere Gene dazukommen werden und die Analysen schrittweise bis auf Ebene der Proteine und anderer Moleküle reichen werden (Multi-Omics-Diagnostik). Dadurch werden die Krebserkrankungen in immer kleinere Subgruppen aufgeteilt – bis am Schluss tatsächlich jeder Patient seinen eigenen, einzigartigen Krebs hat. Dann wird auch die versprochene personalisierte Krebsmedizin Realität sein.
Bis dahin ist es allerdings noch ein weiter und steiniger Weg. Schon heute ist die Onkologie eine Big-Data-Medizin, die viel Bioinformatik bis hin zu künstlicher Intelligenz braucht, um überhaupt die enorme Datenflut schnell und zuverlässig analysieren zu können. Umso wichtiger ist es, dass in der Schweiz die Digitalisierung im Gesundheitssystem endlich umgesetzt wird. Dazu gehört auch die ewige Baustelle des elektronischen Patientendossiers.
Nur wenn es gelingt, die Krebsmedizin auf ein nächstes Level zu heben, werden auch deutlich weniger Menschen an Krebs sterben. In der Schweiz sind letztes Jahr rund 17 000 krebsbedingte Todesfälle registriert worden – bei jährlich mehr als 36 000 neuen Krebsdiagnosen. Wollen wir diese Zahlen reduzieren, braucht es neben viel Forschung vor allem eines: ein Umdenken, wie wir Krebserkrankungen verstehen und wie wir über sie reden.