Samstag, November 23

Bevor er aus Iran geflohen ist, realisierte Rasoulof im Geheimen den Film «The Seed of the Sacred Fig». Geschickt verfrachtet er die politischen Fragen der iranischen Gegenwart in ein Familiendrama.

Zwei Autos verfolgen sich auf einer Landstrasse vor einem schroffen Bergmassiv. Tatsächlich kann man nicht sagen, wer hier wem folgt. Fast wähnt man sich in einem archaischen Hollywoodfilm, ein Lastwagen rast hupend auf der Gegenspur, die Karambolage wird gerade noch verhindert, Staub wirbelt auf. Statt mit Waffen schiessen die Menschen in den Autos jedoch mit Handykameras aufeinander.

Im einen Auto sitzt die Familie des iranischen Ermittlungsrichters Iman. Er hat seine Ehefrau Najmeh und die gemeinsamen Töchter, Rezvan und Sana, mit in seine ländliche Heimat genommen. Im anderen Auto sind Unbekannte, die ihn filmen wollen, diesen Verbrecher, der im Zuge der seit 2022 in Iran abgehaltenen politischen Proteste im Auftrag des Regimes Todesstrafen verhängt.

Beide filmen sich, um die jeweiligen Verbrechen zu beweisen. Aber die Frage ist, wer ist das Gericht? Entweder richten die Beamten des autoritären Gesetzes oder es richtet die Moral eines aufbegehrenden Volkes. Es gibt allerdings noch ein drittes Bild, jenes des Films selbst. Der zeigt, wie die Gewalt eines resolut vorgehenden autoritären Regimes die Liebe in einer Familie zerstört.

Geheimer Dreh

Mohammad Rasoulof, der aufgrund seiner systemkritischen Filme in den letzten Jahren wiederholt mit Arbeits- und Reiseverboten sowie Gefängnisstrafen belegt wurde, ist im Frühjahr aus Iran geflohen. Zuvor realisierte er «The Seed of the Sacred Fig» unter extrem schwierigen Bedingungen im Geheimen. Die Drehfenster waren eingeschränkt, das Schnittmaterial musste aus dem Land geschmuggelt werden.

Erstaunlicherweise merkt man dem Film diese Limitierungen nur selten an. Das liegt vor allem an der Dringlichkeit, mit der Rasoulof den Frauen in seinem Film eine Bühne gibt. Die übernehmen nach und nach die Handlung und auch die Macht. Befeuert vom Nachrichtenfluss der sozialen Netzwerke (der Film nutzt zahlreiche Bilddokumente aus dem Internet, um von den Protesten und deren gewaltsamer Niederschlagung zu erzählen) treten sie aus den Schatten hervor, in die sie in Iran seit Jahrhunderten verdrängt werden.

Die Töchter des Richters, Rezvan und Sana, erkennen nach und nach, dass die auf den Strassen tobende Revolution einer jungen Frauengeneration auch sie betrifft, sie beginnen sich an den traditionellen Werten ihrer Eltern zu reiben. Heimlich schauen sie auf ihre Handys, schreiben sich Nachrichten, betrachten Videos, hören feministische Parolen und lernen auf Youtube, wie sie eine Waffe benutzen können.

Nur Lügen im TV

Die sozialen Netzwerke sind hier, wie zuvor bei Protestbewegungen in Nordafrika, ein Mittel der Emanzipation, sie widersprechen den Staatsmedien. «Handy weg!», zischt der Vater seine Töchter folglich an. Im TV wären nur Lügen zu sehen, werfen die Töchter dagegen ihrer Mutter vor, die am Abend stoisch den staatlichen Nachrichten folgt. Das ist manchmal ein bisschen schablonenhaft, fesselt aber auch aufgrund des starken Ensembles.

Als eine Schulfreundin bei Protesten schwer verletzt wird, droht die innerfamiliäre Situation endgültig zu kippen. Das liegt auch daran, dass Iman seine Waffe nicht mehr finden kann und ihm deshalb berufliche Konsequenzen drohen. Er verdächtigt seine Familie, die Pistole genommen zu haben. Najmeh fungiert lange Zeit als Vermittlerin zwischen den entstehenden Fronten, muss sich aber bald für eine Seite entscheiden.

Der generationelle Konflikt erweist sich als einer zwischen Geschlechtern oder zumindest zwischen mit Geschlechtern assoziierten Gesellschaftsordnungen. Geschickt verfrachtet der Film die grossen politischen Fragen der iranischen Gegenwart in ein Familiendrama. Es ist eine hochgradig konstruierte, aber umso prägnantere Parabel, in der die Familie für einen ganzen Staat steht, und für die Art und Weise, in der auch dieser aufgrund der patriarchalen Strukturen ins Wanken gerät.

Dass ausgerechnet eine Pistole verlorengeht, passt in die Erzählung vom Verlust männlicher Macht. Des Phallussymbols schlechthin beraubt, irrt Iman verzweifelt durch die Zimmer seines Hauses. Es ist ein Ehrverlust, aber er fürchtet auch, dass er sich im Fall eines Angriffes nicht wehren kann. Er wird paranoid. Die verlorene Waffe ist eine Metapher, aber der Film zeigt auch ganz konkret, was es bedeutet, eine Waffe zu besitzen und sie zu benutzen.

Wie bei Tschechow

Im letzten Akt versucht Iman sich mit roher Gewalt verzweifelt an seine patriarchale Macht zu klammern, aber es ist schon zu spät. Dass hier Tagespolitik im Gewand eines an Tschechow gemahnenden Moralstücks verhandelt wird, zeigt die zunehmende Geschwindigkeit, mit der das Kino versucht, auf politische Wirklichkeiten zu reagieren.

Aber der Film tappt nicht in die Fallstricke eines allzu plakativ aktivistischen Kinos, das nur Diskurse aus den sozialen Netzwerken wiederkäuen würde. Dass Rasoulof Distanz hält und in sämtlichen Figuren Ambiguitäten findet, macht seinen Film besonders wertvoll.

Statt die Menschen für ihre Taten zu verurteilen, zeigt er, dass das herrschende System Männer wie Iman erst in die Handlungen treibt, die im letzten Drittel des Films zu einem regelrechten Horrorfilm ausarten. Die sich ganz am Ende ins wirklich Böse wendende Figur des Iman ist nicht apologetisch gezeichnet, denn es ist ganz klar, auf wessen Seite sich der Filmemacher stellt.

Vielmehr geht es darum, die komplexen Mechanismen einer sich verändernden Welt anhand einer Familie zu untersuchen. Zwischen zwei sich bekämpfenden Bildregimen und Gesellschaftssystemen, zwischen Unterdrückung und Rebellion findet der Filmemacher einen humanistischen Grundton, der gar nicht anders kann, als die Unmenschlichkeit der Regierung anzuprangern.

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