Sonntag, September 29

Das Bezirksgericht Meilen muss in einer heiklen Frage entscheiden: Wo endet die eigene Willensfreiheit?

Sie ist Anfang Zwanzig, er Mitte Fünfzig. Es geschieht an einem Wochenende in der Toskana. Er nähert sich ihr an, die beiden haben Sex. Es sei ihr erstes Mal gewesen, sagt sie. Sie habe diesen Mann so bewundert und sei überwältigt gewesen, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte.

Die Sache fliegt auf. Die Ehefrau des Mannes, die auf der Reise mit dabei ist, kommt dahinter und stellt die beiden zur Rede. Zur jungen Frau sagt sie, sie solle ihren Vaterkomplex aufarbeiten. Die Ehepartner sind beide Psychologen – sie ist die Therapeutin der jungen Frau.

Die Affäre endet damit aber nicht. Sie wird noch über fünf Jahre dauern, bis sie endgültig in die Brüche geht.

Nun, zehn Jahre nach Beginn der Affäre, stehen die junge Frau und der sehr viel ältere Mann vor dem Bezirksgericht in Meilen. Er ist inzwischen 67 und sie 32. Sie sagt, dass sie diese Beziehung zu ihm eigentlich gar nie gewollt habe. Dass sie abhängig gewesen sei von ihm. Er habe seine Macht missbraucht, die er über sie gehabt habe, um seine sexuellen Triebe an ihr zu befriedigen.

Er selbst verweigert vor Gericht jegliche Aussage. Seine Anwältin bestreitet aber, dass die junge Frau von ihm abhängig gewesen sei. Immer wieder habe sie ihm in ihren Nachrichten und E-Mails über ihre grosse Liebe und die sexuelle Erfüllung geschrieben, die er ihr beschere.

Panikattacken und Angstzustände

Es ist ein schwieriger Fall, in dem das Bezirksgericht in Meilen zu entscheiden hat. Im Zentrum stehen Fragen wie: Wo endet die eigene Willensfreiheit? Und wie lässt sich belegen, dass jemand durch äussere oder innere Faktoren dazu gezwungen war, etwas wider die eigenen Interessen zu tun?

Die heute 32-jährige Frau, ihr Anwalt und die Staatsanwaltschaft sind überzeugt, dass der Psychologe ein Notlage ausnutzte. Ihre Geschichte geht so:

Die damals 20-Jährige steckt in einer schweren psychischen Krise. Sie fühlt sich einsam und minderwertig, hat Panikattacken und Angstzustände im Umgang mit Menschen. Das Verhältnis zu ihren Eltern ist konfliktreich, und auch sonst hatte sie kaum ein soziales Umfeld. In dieser Situation sucht sie Hilfe und beginnt eine Therapie bei jener Psychologin, mit deren Mann sie bald eine Affäre haben wird.

Die Psychologin betreibt gemeinsam mit ihrem Mann ein Zentrum, das sich als eine Art von therapeutischer Gemeinschaft versteht, wo sich Betroffene gegenseitig helfen sollen. Die Therapeutin empfiehlt ihrer jungen Patientin, auch an den Gruppengesprächen des Zentrums teilzunehmen, die meist von ihrem Mann geleitet werden. Die 20-Jährige, die selbst Psychologie studieren will, ist fasziniert von diesem Umfeld und diesem Mann, der ihr mit Komplimenten jene Bestätigung gibt, die ihr in ihrem Leben fehlt.

Bald gehört sie zum inneren Kreis des Zentrums, sie gehört zu jenen Auserwählten, die beim Leiterehepaar übernachten, im Zentrum allerlei Aufgaben übernimmt, finanziell unterstützt wird und auch auf Wochenendausflüge mitfährt. Auf einem dieser Ausflüge beginnt dann auch die Affäre zum 35 Jahre älteren Mann.

Vor Gericht beschreibt die Frau das Zentrum heute als eine Art von Psychosekte, die sie völlig vereinnahmt habe.

Richterin: Welche Bedeutung hatte das Zentrum damals für Sie?

Ein enorme. Es war mein ganzes Leben. Ich war jeden Tag dort.

Hatten Sie keine anderen Freunde?

Nur flüchtige Bekanntschaften aus dem Studium. Es war schwierig, Beziehung aufzubauen, weil die ja nicht die Einstellung hatten, die im Zentrum propagiert wurde.

Warum haben Sie Zentrum nicht verlassen?

Ich hatte sonst niemanden. Und ich hatte auch niemanden, der mir sagte, dass es komisch sei, was in dem Zentrum abläuft.

Was war Ihre Rolle beim ersten sexuellen Kontakt mit dem Zentrumsleiter?

Ich habe das mit mir machen lassen. Ich war völlig durcheinander, überrascht und überfordert.

Warum hat ihre Beziehung mit ihm so lange gedauert? Was hat Sie an ihn gebunden?

Das Gefühl, dass ich ihn brauche. Ich habe Bestätigung gesucht. Und ich hatte auch Schuld- und Verpflichtungsgefühle ihm gegenüber, die er auch gefördert hat.

Wie sehen Sie diese Beziehung heute?

Es ist nicht einfach, darüber zu sprechen, auch heute. Ich finde es schwierig zu akzeptieren, dass ich mich auf so etwas eingelassen habe. Der Altersunterschied ist so krass. Es ist einfach grusig. Mir ist erst Jahre später klar geworden, wie ich manipuliert wurde. Noch heute habe ich Mühe im Umgang mit anderen Menschen oder zu spüren, was ich selbst will und was nicht.

«Problematische Verwischung der Grenzen»

Das Therapiezentrum fällt schon vor einigen Jahren wegen seiner umstrittenen Methoden auf. Gestützt auf die Aussagen ehemaliger Klienten kritisiert die Fachstelle für Sektenfragen Infosekta damals die «problematische Verwischung der Grenzen zwischen beruflichem Setting und Privatleben». Das Leiterehepaar wird als autoritär und manipulativ beschrieben. Heute existiert das Zentrum nicht mehr.

Was der jungen Frau zugestossen ist, bezeichnet die Staatsanwältin vor Gericht als haarsträubend. Der Zentrumsleiter habe genau um ihren angeschlagenen psychischen Zustand gewusst. Er habe seinen Einfluss, seine berufliche Stellung und die sektenartige Struktur des Zentrum genützt, um mit ihr Sex zu haben. Sie fordert deshalb eine bedingte Freiheitsstrafe von 18 Monaten und ein Tätigkeitsverbot.

Ähnlich sieht es der Anwalt der Geschädigten. Der Zentrumsleiter hätte sich als Therapeut zurückziehen oder die junge Frau zum Verlassen des Zentrums auffordern müssen, als er merkte, dass er Gefühle für sie entwickelt. Sein Verhalten widerspreche jeglichen beruflichen Standards.

So ist in den Standesregeln der Assoziation Schweizer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten festgehalten, dass ein aus der therapeutischen Beziehung entstehendes Abhängigkeitsverhältnis nicht missbraucht werden darf. Der Missbrauch beginne, wenn der Therapeut seine Verantwortung nicht wahrnehme, beispielsweise indem er sexuelle Interessen befriedige, «selbst wenn dies von Patientinnen gewünscht wird».

Die Verteidigerin des Zentrumsleiters hält dagegen: Es habe gar keine Abhängigkeit bestanden. Die Frau sei ja gar nicht bei ihm in Therapie gewesen, sondern bei seiner Frau. Der Beschuldigte habe lediglich die Gruppentherapien geleitet, an denen jeweils viele andere Personen anwesend waren.

Zudem sei die Teilnahme freiwillig gewesen. Alle hätten das Zentrum jederzeit verlassen können. Die Verteidigerin zieht auch in Zweifel, dass es der Geschädigten wirklich so schlecht ging, wie sie selbst schilderte. «Wir kennen nur ihre eigenen Aussagen, irgendwelche Belege dafür gibt es nicht.» Die Tatsache, dass die Annäherungsversuche immer wieder auch von ihr ausgegangen seien, zeige, dass ihre Entscheidungsfreiheit nicht eingeschränkt gewesen sei.

Richterin spricht von sektenhaften Strukturen

Das Gericht sieht es jedoch anders. Ein Abhängigkeitsverhältnis sei klar gegeben gewesen, sagt die Richterin bei der Urteilseröffnung am Montag. Die junge Frau sei in einer Notlage und in einem psychisch labilen Zustand in das Therapiezentrum gekommen.

Dort sei es zu einer umfassenden Psychotherapie gekommen. Die Richterin spricht gar von sektenhaften Strukturen. Die junge Frau habe kein eigenes Umfeld mehr gehabt. «Ein Ausstieg hätte den Verlust des gesamten sozialen Kontexts zur Folge gehabt.» Der Psychologe hab die Abhängigkeit der jungen Frau zudem bei den Gesprächen weiter verstärkt. «Es fehlte die therapeutische Distanz, Grenzen sind sukzessive überschritten worden.»

Hinzu komme, dass die Avancen zu Beginn des Verhältnisses klar vom Psychologen ausgegangen seien. Die Richterin sagt, der Mann hätte die Therapie sofort abbrechen müssen, als er gemerkt habe, dass er der Patientin zu nahe steht. «Doch das ist nie passiert, die Beziehung wurde über Jahre fortgesetzt.» Der Mann habe seine berufliche Stellung schamlos ausgenutzt.

Das Gericht verurteilt den Mann schliesslich wegen mehrfacher Ausnützung der Notlage zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 16 Monaten. Zudem ordnet es ein fünfjähriges Tätigkeitsverbot an. Der 67-Jährige muss der jungen Frau zudem eine Genugtuung von 15 000 Franken zahlen.

Urteil DG 230 009 vom 24. 6. 24, noch nicht rechtskräftig.

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