Montag, Januar 20

Der Künstler Yves Netzhammer setzt dem Industrieareal Escher-Wyss ein Denkmal der anderen Art.

Am schlimmsten war es im Winter. Dann fuhren die Trams kaum an, die Wagen blieben im Schnee stecken, die Pferde schnaubten weisse Wolken in die Luft.

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Dreissig frierende Zürcherinnen und Zürcher in einem kleinen Holzgefährt. Vor dieses gespannt: zwei erschöpfte Hengste, die dampfende Pferdeäpfel auf Gleis und Strasse fallen liessen.

Dann ein Ruf des Tramführers, ein Knallen der Peitsche, und mit einem Ruck rollte das Gefährt doch noch los.

So sah in den 1880er Jahren die neuste Innovation im Zürcher Nahverkehr aus. Damals, in der Zeit des Rösslitrams, das ab 1882 Passagiere durch die Stadt fuhr. Vom Helmhaus zum Sihlfeld in 20 Minuten, manchmal auch in 25. So genau nahm man das damals nicht.

Die Pferdetrams – heute gern verklärt – waren allerdings keine grossartige Erfolgsgeschichte. Geld warfen sie kaum ab, und auch für die Tiere war die Arbeit kein Vergnügen. Während in anderen Städten ganze Gespanne die Trams zogen, taten dies in Zürich nur ein oder zwei Tiere pro Wagen. Die Hengste, so erzählte es ein ehemaliger Tramführer 1938 der NZZ, hätten kaum je länger als vier bis fünf Jahre durchgehalten. Der Tramgesellschaft wurde deshalb Schinderei vorgeworfen.

Die Rösslitrams durchquerten Zürich in einer Phase radikalen Wandels: an der Schwelle zur industriellen Moderne, als die Zeit der Kutschen in jene der Maschinen überging. Als die Stadt mit ihren Vororten zusammenwuchs und zum Produktionszentrum zu werden begann.

Die seltsamen Gefährte, irgendwo zwischen altmodisch und modern, wurden bald durch andere, raffiniertere Trams abgelöst. Die Elektrifizierung der Strassenbahn setzte der Schinderei und den Pferdeäpfeln ab den 1890 Jahren ein Ende.

1900 verschwand das Ross aus dem Nahverkehr, wie in den Jahrzehnten danach aus der Stadt überhaupt. Nur ein paar nostalgische Zünfter liessen noch dann und wann einen Nachbau zum Sechseläuten auffahren. Heute geben in den Hightech-Tramdepots der Stadt Flexity und Cobra den Ton an. Ein Tier hat dort nichts verloren. Jedenfalls schien es bisher so.

Denn nun, 125 Jahre nach dem Ende des Rösslitrams, kommt es an einem unwahrscheinlichen Ort zu so etwas wie einer Rückkehr.

Eine «Landmarke» mit kitschigem Namen

Ganz oben auf dem Turm steht es, die Hufe über dem Abgrund, die Nase in Richtung Alpen gewandt. Vor ihm liegt der Escher-Wyss-Platz, aus dessen Umgebung die meisten Fabriken längst verschwunden sind. Und unter ihm – 17 Stockwerke, 193 städtische Wohnungen und etliche Beton-Tonnen entfernt – fahren die Trams ein und aus, im wiedereröffneten Depot Hard.

Hier, auf dem neusten Hochhaus der Stadt, mitten in den gentrifizierten Überresten ihrer industriellen Vergangenheit, steht ein Pferd.

Bald soll es sich bewegen, sich aufbäumen, bücken, mit dem Huf scharren können. Bald soll sein Metallskelett dank einem Hydraulikzylinder zum Leben erweckt werden.

Die Passantinnen und Passanten schauen jetzt schon zu ihm hoch – oder zu ihm herüber, ist es doch selbst von den nahen Stadthügeln aus zu sehen. «Eine Landmarke, die auffällt, überrascht und zum Sinnieren verleitet», sei das, erklärt die Stadt Zürich, die Bauherrin, stolz. Und: «Es ist eine Intervention, die einfach Freude macht.»

Geschaffen hat die Skulptur der Künstler Yves Netzhammer, vielfach ausgezeichnet, international bekannt, 1970 im nahen Säuliamt geboren. Er hat dem Kunstwerk auch seinen doch eher kitschigen Namen gegeben: «Der ungezähmte Horizont».

1,7 Tonnen schwer ist es, drei Meter lang, drei Meter hoch und fast einen Meter breit: ein Koloss von einem Pferd auf einem Koloss des städtischen Wohnungsbaus.

«Diskret», «komplex» und «doch nicht verkopft» sei das Werk, schwärmt die Stadt im Wettbewerbsbericht von 2020, in dem es dem Projekt den Zuschlag gab. Und eben: inspiriert vom Zürcher Rösslitram.

Edelstahl statt Fleisch und Blut

Als die Skulptur im Herbst auf das noch im Bau befindliche Hochhaus gehoben wurde, dauerte es nicht lange, bis sie bemerkt wurde: Das Tier habe Spaziergänger erschreckt, die es für echt hielten, wusste der «Blick» zu berichten. Und zog sogleich eine Parallele zu einem anderen tierischen Kunstobjekt, das nur kurz zuvor das Zürcher Sommerloch gefüllt hatte: ein am Utoquai gestrandeter Pottwal, der die Verschmutzung der Weltmeere anprangerte.

Anders als damals ist die Botschaft diesmal weniger eindeutig: Ist die Skulptur ein Stück glorifizierte Vergangenheit? Ein Memento mori für ein Zürich, das es nicht mehr gibt? Oder eine Kritik an der lebensfeindlichen Betonwüste Zürich-West?

Niemand weiss es so genau. Jeder kann im Pferd sehen, was er will. Und vielleicht mit dem Mitspaziergänger, der Mitspaziergängerin darüber diskutieren.

Ergänzt wird es durch eine Audio-Installation im Eingangsbereich der Hochhäuser, wo periodisch Pferdegeräusche zu hören sein werden. Ein drittes Element – eine im Kopf eingelassene Kamera mit Livestream – ist ebenfalls geplant. Dann wird jeder und jede dem Blick des Pferdes auf seine Stadt folgen können.

Das ganze Kunstwerk hat 315 000 Franken gekostet, wie das Zürcher Hochbaudepartement der NZZ schreibt. Eine nicht unerhebliche Summe, mit der die Stadt eine sich selbst gesetzte Vorgabe realisiert: Seit 1962 muss bei jedem Bauprojekt ein Teil der Baukosten in Kunst am Bau fliessen.

Oftmals entstehen dadurch Werke, die entweder nicht bemerkt oder nicht verstanden werden. Diesmal, beim ikonischen Pferd, das über Zürich blickt, ist das anders: Es ist weder verkopft noch plump, weder Kuriosum noch Konzeptkunst.

Es ist einfach da, ein vieldeutiges Denkmal für eine Übergangszeit, wie sie Zürich auch heute durchlebt. Statt aus Fleisch und Blut ist dieses Pferd aus Kupfer, Edelstahl und Maschinenteilen. Statt ein Tram zu ziehen, scharrt und bäumt es sich bloss mechanisch auf der Stelle.

Eine gewisse Melancholie strömt es dadurch aus. Und doch, wie es dort oben in die Ferne blickt, auch so etwas wie Zuversicht.

Noch ist die Wohnsiedlung im Tramdepot Hard nicht ganz fertig, noch bäumt und bockt das mechanische Ross sich nicht auf seinem Sockel.

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