Mittwoch, Oktober 9


Zeit für Zehen

Immer wieder wurde der Schuh mit dem auffälligen Zehenausschnitt für tot erklärt. Und immer wieder kommt er trotzdem zurück.

Wenn man es schafft, seinen Blick abzuwenden von Bella Hadids halbtransparentem Kleid am diesjährigen Filmfestival in Cannes – eine hautfarbene Konstruktion aus geknüpften, drapierten und dekonstruierten Nylonstrümpfen von Saint Laurent –, dann landet er früher oder später auf ihren Füssen. Besser gesagt: auf ihren Zehenspitzen, von denen mehrere aus glänzenden Pumps hervorlugten. Das Model trug Peeptoes.

Hadid ist nicht die Einzige. Variationen des Schuhs waren jüngst schon auf den Laufstegen von Schiaparelli, Alaïa und Louis Vuitton zu sehen. Sogar die üblicherweise wenig trendbewusste Taylor Swift trug sie in klassischem Schwarz zu den diesjährigen Grammys. Und auf Social Media taucht derzeit unter den unzähligen erhältlichen Ballerina-Abwandlungen eine besonders häufig auf: Sie stammt von Versace und entblösst einige Millimeter der Zehenspitzen der Trägerin. Als sei der Schuh vorne sanft abgehackt worden, der Fuss nur knapp verschont.

Lange war der Peeptoe das Paradebeispiel eines Schuhs, der schlicht aus der Mode gefallen war; verschmäht und auf den stilistischen Scheiterhaufen verbannt. Nach seiner letzten Blütezeit in den nuller Jahren an Victoria Beckham und Paris Hilton wurde er als Schuh gesehen, der sich nicht richtig entscheiden konnte. War er nun sexy oder bieder? Sandale oder Pump? Bürotauglich oder nur für den Ausgang bestimmt?

Es half nicht, dass er um 2010 als Stiefelette eine Renaissance feierte. «Als seien Fuss und Knöchel mumifiziert und die Zehen dabei vergessen worden», so beschrieb die «L. A. Times» den Trend damals. Einen so unsinnigen Schuh zu tragen, sahen viele als Inbegriff der Konformität. Hauptsache, dazugehören, egal, wie sehr die Füsse gleichzeitig schwitzen und frieren. Bald schlossen sich die Schuhkappen wieder, wurden eckig oder spitzig.

Ein Schuh für flüchtige Blicke

Schon in seinen Anfängen provozierte der Peeptoe. Im frühen 20. Jahrhundert wurden am Strand zwar Sandalen getragen, doch abseits davon waren nackte Zehen in der damaligen westlichen Kultur nicht gerne gesehen. Erst mit sich lockernden Dresscodes und sozialen Normen wurden Sandalen akzeptabler. Besonders die Pin-up-Subkultur der vierziger Jahre fand Gefallen an Peeptoes: Der kleine, halbmondförmige Ausschnitt im Schuh deutete auf etwas Verbotenes hin, von dem man lediglich einen flüchtigen Blick erhaschen durfte.

«Es scheint eine Menge Indizien dafür zu geben, dass Menschen die Füsse als eine kleinere Version des Körpers betrachten», so erklärte die Modehistorikerin Valerie Steele die Wirkung des Schuhs einmal in einem Interview. «Der Begriff ‹Zehendécolleté› bezieht sich auf Brüste, und der Peeptoe ist, wie der Name schon sagt, eine Art Peepshow – ein Weg, einen Teil von sich selbst zu zeigen.»

Der Zweite Weltkrieg bremste die neue Popularität des Peeptoe kurzzeitig. 1942 verbot die britische Regierung den Schuh, vermutlich weil Frauen zunehmend in Fabriken arbeiten mussten und er dafür ungeeignet war. Als die Pin-up-Kultur in der Nachkriegszeit aber zunehmend an Fahrt gewann, kam der Peeptoe mit. Für Marilyn Monroe und Bettie Page, die berühmtesten Vertreterinnen des Stils, war der Schuh ein perfektes Accessoire für ihr Spiel mit Verhüllung und Offenbarung.

Genau so brannte sich der Peeptoe in das kollektive Gedächtnis ein. Während er in und aus der Mode fiel – schon 1955 erklärte der damalige Bally-Designer Max Matter den Schuh für unelegant und überholt –, legte er das neckische Retro-Gefühl nie richtig ab.

Zwischen Einquetschen und Freiheit

Das mag für Modelle, wie sie Margot Robbie und Taylor Swift gerne auf roten Teppichen tragen, noch heute stimmen, mit ihren halbrunden Ausschnitten und ihrem schwarzem Satin. Auch in der Miu-Miu-Kollektion für Herbst/Winter 2023 spielte die Designerin Miuccia Prada mit dem Image der vierziger Jahre, in Kombination mit adretten Twinsets und Nylonstrümpfen.

Andere erfinden das Loch im Schuh neu. Bei Alaïa ist es dreieckig, bei Louis Vuitton lugt lediglich der grosse Zeh heraus. Die flachen Peeptoe-Ballerinas von Versace mit der abgeschnitten wirkenden Schuhkappe erinnern hingegen an Bella Baxters Courrèges-inspirierte Vinyl-Stiefeletten im Film «Poor Things» (2023). Dort standen die sichtbaren Zehenspitzen der Protagonistin für ihre totale Missachtung viktorianischer Moderegeln und damit für ihre Freiheit. Auch physisch, denn: Sie schienen nicht eingequetscht, sondern konnten atmen.

Doch das ist die Ausnahme. Ob der Peeptoe in einer Welt bestehen kann, in der Turnschuhe zum Mass aller Dinge (und vor allem des Komforts) geworden sind? Die Zeit wird es zeigen. Oder vielleicht erfindet jemand – nach dem Sneaker-Loafer und dem Sneaker-Ballerina – Turnschuhe mit Peeptoe. Aber man soll den Teufel ja nicht an die Wand malen.

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