Montag, Februar 24

Der Berner Oberländer Thomas Ulrich erzählt, wie er vier Tage allein auf einer zerbrechenden Eisscholle überlebte. Und erklärt, weshalb Menschen mit ihm die Arktis durchqueren und dafür so viel bezahlen wie für ein Luxusauto.

Thomas Ulrich, früher erklommen Bergsteiger die höchsten Gipfel, fuhren mit Ski von Achttausendern, durchkreuzten stürmische Ozeane und Wüsten mit gefährlichen Tieren. Gibt es heute noch echte Abenteuer?

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Ja, durchaus. Im Jahr 2007 bin ich mit dem Norweger Börge Ousland vom Nordpol aus gestartet und auf den Spuren von Fridtjof Nansen, dem bekannten Polarforscher, zur nordsibirischen Inselgruppe Franz-Joseph-Land gelaufen und von dort mit einem Segelboot weiter ans Nordkap von Norwegen gefahren. Das hat seit mehr als hundert Jahren kein Mensch mehr geschafft.

Für den mehr als hundert Tage dauernden Trip wurden Sie vom «National Geographic»-Magazin 2008 als Abenteurer des Jahres ausgezeichnet. In der Bergsteiger-Szene geht es hingegen seit längerem immer nur um eines: Speed.

Grundsätzlich sollte jede und jeder machen, was sie oder er will. Herausforderungen mit der Stoppuhr sind aber nicht mein Ding. Warum soll ich messen, wie schnell ich bin? Ich bin nur dann schnell unterwegs, wenn das aus Sicherheitsgründen notwendig ist oder wenn mir die Nahrung ausgeht. Und dann gibt es noch einen anderen Grund.

Welchen?

Wenn ich in der Eiseskälte nach Hause will. Doch bei all meinen Expeditionen habe ich noch nie auf meine Uhr geschaut, das wäre zu gefährlich. Denn ein Abenteuer ist nur dann ein gutes Abenteuer, wenn man gesund nach Hause kommt. Das gilt auch für die Extrembergsteiger Alex Honnold, Dani Arnold und den viel zu früh verstorbenen Ueli Steck. Das, was die drei geleistet haben, ist beeindruckend. Der Tod meines Freundes Ueli Steck, der 2017 am Nuptse unweit des Mount Everests abstürzte, geht mir heute noch nah. Es gibt Momente, da frage ich mich schon: Ergibt das, was wir da machen, einen Sinn?

Was ist für Sie ein gutes Abenteuer?

Ich will die Natur und ihre Schönheit geniessen. Und nicht wissen, ob ich nun 92 oder 93 Tage für eine Expedition brauche.

Die Bergsteiger-Legende Reinhold Messner sagte über seine Expeditionen immer wieder: «Wir gehen dorthin, wo man umkommen könnte, um nicht umzukommen.» Was halten Sie davon?

Schon vor der Expedition gehe ich alle Szenarien durch. Mein Equipment und mein Notszenario habe ich hundertfach optimiert und getestet. Ich suche sicher nicht die Gefahr, sondern einzig und allein ein intensives Erleben.

Widersprechen Sie Messner also?

Ja. Warum muss ein Abenteuer mit einer Lebensgefahr verbunden sein? Das wäre doch nur fahrlässig. Ich will leben und überleben. Eine Buschwanderung kann ebenso spektakulär und ereignisreich sein, wie wenn ich mir in Alaska oder Kanada alleine eine Holzhütte baue und darin überwintere.

Ein Guide fürs Extreme

Keystone

bko. Der Berner Oberländer Thomas Ulrich liess sich zum Bergführer ausbilden und spezialisierte sich später auf die Durchquerung grosser Eiswüsten.

2006 scheiterte Ulrichs Versuch, den Arktischen Ozean auf der 1800 Kilometer langen Strecke von Sibirien über den Nordpol nach Kanada solo zu durchqueren. Nach einer mehrere Tage dauernden Rettungsaktion bargen ihn russische Helikopterpiloten von einer Eisscholle.

Ein Jahr später begab sich Ulrich mit Börge Ousland zum Nordpol. Nach 85 Tagen zu Fuss, auf Ski, mit Kites und Kajak erreichten sie die Inseln von Franz-Joseph-Land. Von dort segelten sie ans Nordkap und kamen 113 Tage nach dem Expeditionsstart am Nordpol an. Als Polar-Guide führt der 57-Jährige auch kommerzielle Expeditionen durch.

Nach Kanada wollten Sie 2006 schon einmal. Damals war Ihr Ziel, als erster Mensch allein den Nordpol von Sibirien nach Kanada zu überqueren. Was lief schief?

Alles. Ich war zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Bereits kurz nach dem Start erlebte ich einen fürchterlichen Sturm. Die Eisscholle, die etwa so gross wie vier, fünf Fussballfelder war, zerbrach wie ein Puzzle, das man auf den Boden fallen lässt. Unter mir und meinem Zelt sah ich nur noch schwarzes Wasser. Das Worst-Case-Szenario war eingetreten. Zum ersten Mal in meinem Leben musste ich den Notfallalarm auslösen. Das Problem war aber, dass der russische Katastrophenschutz wegen des Sturmes erst nach vier Tagen kam. Das gehört eben auch zu Abenteuern.

Wie ging es Ihnen in diesen Tagen?

Das waren die schlimmsten Tage meines Lebens. Zwei Wochen zuvor war ich noch bei einem Elternabend meiner Tochter in der Schweiz. Nun sass ich auf einer zerbrechenden Eisscholle, wusste nicht, ob ich absaufe oder ein Eisbär mich frisst. Die Folge waren krasse Panikattacken, erst dann kamen die Wut, die Selbstzweifel. Irgendwann war ich nur noch traurig. Und dann habe ich mein Zelt zerschnitten.

Sie haben Ihren einzigen Rückzugsort zerschnitten. Weshalb?

Meine Töchter hatten vor der Expedition die Innenseite des Zeltes angemalt, damit ich ihre Zeichnungen und Motivationssprüche sehen konnte, wenn ich darin lag. Weil ich irgendwann davon ausging, dass ich sie nie mehr sehen werde, habe ich die ausgeschnittenen Zeichnungen in die linke Seite meines Parkas gesteckt. Ich wollte, dass sie nah an meinem Herzen sind, falls ich sterbe.

Sie haben überlebt.

Klingt heroisch, war es aber nicht. Ich habe geschrien und geweint. Und realisiert, dass ich derjenige bin, der mich am Leben erhalten kann. Damals hatte ich eine Waffe dabei, die 44er-Magnum war aber eigentlich für die Eisbären gedacht. Letztlich hatte ich viel Glück, dass ich überlebt habe.

Wie realistisch ist es, dass man auf einer Scholle von einem Eisbären angegriffen wird?

Dort draussen kann einem immer etwas passieren. In Grönland hatte ich bei einer Expedition einmal nur eine einzige leichte Carbon-Schaufel dabei. Das war ein Fehler. Damals zog ebenfalls ein gewaltiger Sturm auf. Seit dieser Erfahrung habe ich nun immer zwei starke Schaufeln dabei, so kann ich mich und meine Kunden besser eingraben.

Eingraben?

Ja, sonst wären wir davongeflogen. Trotzdem mussten wir den Sturm eine Nacht lang aushalten. Am nächsten Tag sind wir dann zwölf Stunden lang zu einer ausrangierten Radarstation gelaufen. Dort war zufälligerweise ein belgischer Guide mit seinen Kunden. Zusammen verbrachten wir fünf Tage in dem Höllensturm. Als das Wetter wieder gut war, brach der Belgier in Richtung Norden auf, wir gingen nach Osten.

Also ging alles gut aus?

Nach meiner Ankunft in der Zivilisation habe ich erfahren, dass er vor seinen Kunden in eine Gletscherspalte gefallen war. Die Spalte war zu tief, als dass er hätte geborgen werden können.

Hans Kammerlander sagte vor kurzem, von seinen Freunden sei nur Reinhold Messner geblieben, mit dem er mehrere Achttausender bestiegen hat. Alle anderen Bergkameraden seien gestorben.

Aus genau diesem Grund habe ich mich bereits vor zwanzig Jahren gegen das extreme Bergsteigen und für riesige Eiswüsten entschieden. Ich kann mich noch an den Cerro Mayo in Argentinien erinnern. Ich war mit meinem Freund Börge Ousland dort, wir seilten uns von einer 800 Meter hohen Eiswand ab, als plötzlich Tonnen von Eis über unsere Köpfe krachten. Zehn Sekunden früher, und die Eislawine hätte mich begraben.

Bei Ihren Vorträgen zeigen Sie jeweils das Inserat von Sir Ernest Henry Shackleton, mit dem er Teilnehmer für die Durchquerung der Antarktis anwarb: «Suche Freiwillige für gefährliche Reise. Niedriger Lohn, bittere Kälte. Rückkehr ungewiss.» Woran denken Sie bei dieser Annonce?

Dass ich im falschen Jahrhundert geboren wurde. Heute unterschreibe ich vor den Expeditionen Versicherungspolicen und buche Flüge an die Startorte. Das ist ein riesiger Unterschied zu früher. Ernest Shackleton brach Anfang des 20. Jahrhunderts zu seinen Expeditionen auf, ohne zu wissen, ob er jemals wieder nach Hause kommen wird.

Bewundern Sie ihn?

Ja. Und auch Fridtjof Nansen, den norwegischen Polarforscher. Nansen war 1888 der erste Mensch, der Grönland durchquerte und sich Jahre später Richtung Nordpol aufmachte. Er ging als der Mann in die Geschichte ein, der allen folgenden Expeditionen in die Arktis und die Antarktis den Weg geebnet hat. Nansen ist ein Pionier. Ich wäre gerne mit ihm unterwegs gewesen.

Gibt es heute noch solche Abenteurer?

Heute gibt es mit Ousland, dem Südafrikaner Mike Horn und vielleicht mir mehrere Leute, die den Mut aufbringen, solche Expeditionen zu unternehmen. Man darf aber nicht vergessen: Schon das kleinste Wehwehchen kann einen das Leben kosten. Vor einigen Jahren hat sich bei mir in der Arktis eine Frostbeule im Gesicht entzündet. Ich sah aus, als hätte ich mein Gesicht in ein Wespennest gesteckt. Hätte ich nicht das richtige Antibiotikum bei mir gehabt, hätte ich sterben können. An solchen unwirtlichen Orten merkt man überhaupt erst, wie lebenswert das Leben ist.

Dennoch zieht es Sie immer wieder zu diesen Orten, die lebensfeindlich sind. Wo gehen Sie als Nächstes hin?

Ich bin nicht mehr nur mit Freunden unterwegs, sondern biete solche Abenteuer mittlerweile auch kommerziell an. Ende November bin ich mit einem Privatkunden aufgebrochen. Mit ihm marschierte ich vom Südpol aus Richtung Mount Vinson, das ist mit 4897 Metern der höchste Berg der Antarktis. Für uns war das eine Herkulesaufgabe: zuerst 1400 Kilometer zu Fuss mit Ski sowie Kites und Schlitten durch die Antarktis und dann noch auf einen 5000 Meter hohen Berg kraxeln!

Und was kostet das?

Für das Geld können Sie sich ein James-Bond-Auto von Aston Martin kaufen. So viel Geld hatte ich noch nie auf meinem Bankkonto. Kost und Logis sind allerdings inbegriffen.

Eine Suppe ist dabei, wie grosszügig.

Nun ja, es ist ja nicht so, dass ich am Freitagabend meine Sachen packe und am Samstagmorgen losfliege. Eine solche Expedition erfordert monatelange Vorbereitungen. Zudem wissen meine Kunden und Kundinnen: Wenn sie mit mir unterwegs sind und mir damit auch ihr Leben anvertrauen, bekommen sie von allem nur die höchste und beste Qualität in Sachen Material, Erfahrung und Organisation. Ich bin so präzise wie ein Schweizer Uhrwerk, ich funktioniere immer.

Wie verbringt man zwei Monate mit einem fremden Menschen? Sie sind ja nicht nur den ganzen Tag zusammen, sondern schlafen auch im gleichen Zelt.

Sobald wir gelandet sind, gibt es nicht mehr den Expeditionsanbieter und den Kunden. Wir starten als Team und Freunde, und wir kehren als Team und noch bessere Freunde zurück. Die Voraussetzungen sind klar: Er hat die Kohle für den Trip, ich die Erfahrung. Das ist ein gutes Team, finde ich.

Immer?

Es gab auch schon Touren, auf denen mir ein Teilnehmer erklärte, wie wir schneller durch die Arktis kommen könnten. Ich habe ihm gesagt: «Spezi, daheim bist du der Chef. Aber wenn du wieder nach Hause kommen willst, dann musst du jetzt machen, was ich dir sage. Andernfalls wirst du das nicht überleben.»

Wie hat er reagiert?

Er hat das gut aufgenommen. Kurz nachdem wir angekommen waren, hat er mich wieder angerufen und mich gleich für die nächste Tour gebucht. Man muss wissen: Die Menschen, die bei mir eine Reise im Wert eines Luxusautos buchen, sind nicht die bodenständigsten. Sie haben meist sehr viel Geld. Draussen auf dem Eis, oft Tausende Kilometer von der Zivilisation entfernt, nützt ihnen dieses Geld aber wenig. Da herrschen andere Gesetze.

Ihre Gesetze?

Ich höre mir jede Meinung an, berücksichtige sie in meinen Entscheidungen aber nur, wenn sie zielführend ist. Denn letztlich trage ich die Verantwortung. Die Menschen müssen sich mir unterordnen, weil ich derjenige bin, der über die notwendige Erfahrung verfügt. Ich rate daher jedem, auf mich zu hören. Das macht ihr Leben dort draussen sehr viel angenehmer.

Bereiten sich Männer und Frauen Ihrer Erfahrung nach unterschiedlich auf die Expeditionen vor?

Wenn eine Frau sich zu einer Expedition anmeldet, weiss ich, dass fast nichts schiefgehen kann. Frauen überlassen nichts dem Zufall, sind immer topfit. Männer hingegen haben oft mit ihrer chronischen Selbstüberschätzung zu kämpfen. Sie gehen zweimal die Woche joggen und denken dann, dass das für die Arktis schon reicht.

Und wie gehen Sie mit Angst um?

Ich bin auch nur ein Mensch. Und ein ängstlicher noch dazu. Eine Reise in einen lebensfeindlichen Naturraum bringt naturgemäss gewisse Gefahren mit sich. Es handelt sich um eine Gegend, in der Pech weitreichende Konsequenzen haben kann. Jeder Teilnehmer muss eine Erklärung unterzeichnen und bereit sein, das Risiko selbst zu tragen.

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