Heiter stimmt in dem Roman des weissrussischen Schriftstellers Alhierd Bacharevič einzig die berückende Poesie, die ihn durchzieht.

Er gehört zu den bedeutendsten weissrussischen Schriftstellern und Sprachkünstlern: Alhierd Bacharevič, 1975 in Minsk geboren, heute Exilant in Hamburg. 2017 erschien sein Opus magnum «Europas Hunde» auf Weissrussisch, wenig später – in der Übersetzung des Autors – auf Russisch und schaffte es auf die Shortlist des wichtigsten russischen Literaturpreises «Bolschaja Kniga». Doch das sind Tempi passati. Inzwischen wurden alle Bücher Bacharevičs als extremistisch eingestuft und verboten.

Hinter solch politisch motiviertem Verdikt verbirgt sich Angst. Kühne Phantasiespiele, künstlerische Komplexität und Mehrdeutigkeit gelten als Gefahr. Bacharevičs fulminanter 740-Seiten-Roman «Europas Hunde» aber zeichnet sich gerade dadurch aus: Er ist Sprachfeuerwerk und Satire, Dystopie und Hommage an die Literatur. Joyce-Zitate bevölkern ihn ebenso wie Selma Lagerlöfs Nils Holgersson, der in neuer Gestalt wiederkehrt.

Die Kunstsprache Balbuta

Gedichte, Märchen und Mythen ziehen sich wie ein roter Faden durch das Romanuniversum, um lustvoll dekonstruiert zu werden. Geheimnisumwitterter Kernpunkt und Motor des Ganzen aber ist die Kunstsprache Balbuta. Vom Autor (mitsamt Grammatik) erfunden und seinem Ich-Erzähler Oleg Olegowitsch zugeschrieben, kursiert sie nur in einem engen Kreis von Eingeweihten: Symbol von Freiheit und Autarkie angesichts einer repressiven Umwelt.

Diese Umwelt heisst Minsk, eine Stadt wie «eiskalte Panzer», in der es ohne Kampfkunst kein Überleben gibt. Durch ihre Scheinnormalität mit blauen Ikea-Würfeln und katarischen Kinos irren Verrückte und Eskapisten, Balbuta-Dichter und Träumer, die von Milizionären und Mafiosi bedrängt werden.

Bacharevič schildert ihre Abenteuer mit erzählerischer Verve, so wie er die Minsker Pappenheimer aufs Korn nimmt. Etwa eine Schulklasse aus «brunftigen Brüllaffen» mit Fistelstimme und «Bombenkrieg im Oberstübchen», deren gequälter Lehrer seinen widerspenstigen Zöglingen aufträgt, Texte für eine Zeitkapsel zu schreiben. Dann rein in die Flasche und verbuddeln. (Ein in Balbuta verfasster Text wird ans Tageslicht kommen, wie der Schluss des Romans verrät.)

Thrillerhafte Züge weisen alle sechs kunstvoll miteinander verwobenen Romankapitel auf, wobei Erfindung und Wirklichkeit verschwimmen und in kurzen metafiktionalen Passagen auch einmal der Autor namentlich seinen augenzwinkernden Auftritt hat. Das Kapitel «Gänse, Menschen, Schwäne» kreist um Spionage «im strategischen Wald, an der Westgrenze».

Im Kapitel «Der Neandertaler Wald» nimmt Bacharevič Bezug auf das real existierende Zentrum zur Erforschung der weissrussischen Geschichte, Mythologie und Religion «Kryuja», führt dessen Anliegen aber ad absurdum. Eine uralte Zauberin und Heilerin wird aus ihrem Dorf auf eine einsame Ostseeinsel entführt, deren Besitzer sich von ihr «das wahre Belarus» erhofft: urwüchsig, unverdorben. Die Utopie endet auf einer Mittelmeerinsel, wo der selbsterkorene Weissrussland-Retter von Migranten umgebracht wird und auch die Alte ihren Tod findet.

Bleibt nur die Dystopie. Ihr ist das letzte Romankapitel, «Die Spur», gewidmet, das im Jahre 2050 spielt. Weissrussland wurde längst dem russischen Imperium einverleibt, das sich bösartig ausgedehnt hat. An seinen Grenzen heulen Hunde, nicht weniger bösartig. Derweil stirbt in einem Billighotel in Berlin ein Mann, dessen Identität aufzudecken Teresius Skima, Agent des Erkennungsdienstes (ED), obliegt.

Schöpferische Widerständigkeit

Hinterlassen hat er ausser ein paar Klamotten nur ein Buch in kyrillischen Lettern, das sich als russische Übersetzung des Märchens von Nils Holgersson entpuppt, eine Gänsefeder und ein Heft mit unleserlichen Krakeln. Skima, obwohl völlig unbelesen, tippt auf einen Dichter und begibt sich auf die Suche. Buchhandlungen sind so gut wie verschwunden, Bücherfreaks eine seltene Spezies, aber Spuren führen ihn über Hamburg, Prag, Paris bis nach Vilnius und von dort, mit gefälschtem Pass, nach Minsk. Hier laufen alle Fäden zusammen, hier wird der totalüberwachte Skima fündig: Auf dem alten Tablet seines Aufpassers taucht nicht nur der Hinweis auf die geborgene Zeitkapsel auf, sondern auch ein Brief daraus – in Balbuta.

Verschweigen wir den Namen des Verfassers, nicht aber seine Message: ein Bekenntnis zur Imaginationskraft der Literatur. «Was brauche ich Europa? Ich habe es mir schon ausgedacht. Ausgedacht, auserlesen, ausgeschnitten aus Papier, aus all meinen Lektüren – und es versteckt.»

So könnte Bacharevič selber sprechen, denn sein Roman, mag er auch auf Weissrussland fokussiert sein, ist europäisch durch und durch: geschult an Joyce und Kafka, am Wortwitz der Dadaisten, an «Gullivers Reisen» und «Nils Holgersson».

Ein «totaler Roman» von spielerischer Leichtigkeit und nagendem Ernst, von satirischer Schärfe und dystopischer Düsterkeit, die durch viel Poesie (zum Teil in Form gereimter Gedichte) kompensiert wird. Sein Hauptmerkmal aber ist schöpferische Widerständigkeit: Sie mildert melancholische Töne und schwarzseherische Szenarien ebenso ab wie W. H. Audens Motto: «In the nightmare of the dark / All the dogs of Europe bark . . .» Grosser Dank gebührt Thomas Weiler für seine meisterhafte Übersetzung und für das beigefügte Wörterbuch Balbuta-Deutsch, das uns auffordert, eine neue Sprache zu lernen. Wenn das kein Gewinn ist.

Alhierd Bacharevič: Europas Hunde. Roman. Deutsch von Thomas Weiler. Verlag Voland & Quist, Berlin und Dresden 2024. 740 S., Fr. 40.70

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