Eine 61-jährige Joggerin soll nach einem Training von einem Fremden vergewaltigt worden sein. Sie geht erst vierzehn Monate später zur Polizei. Es steht Aussage gegen Aussage.
Die inzwischen 65-jährige Frau verhält sich nicht wie ein stereotypisches Opfer eines Sexualdelikts; weder nach der Tat noch vor Gericht. Sie will in Anwesenheit des Beschuldigten im gleichen Saal befragt werden und verfolgt den Prozess auch danach weiterhin knapp zwei Meter neben dem Täter. «Ich bin ja nicht schuld an seiner Verdorbenheit», sagt sie einmal. Sie wolle sich ihre Freiheit und ihr Leben nicht nehmen lassen. Ihr Anwalt hat bewusst auf einen Antrag zum Ausschluss der Öffentlichkeit verzichtet.
In die Tiefgarage gefolgt
Die Rentnerin erzählt bei ihrer Befragung, wie sie im Juli 2021 in einem Wald bei ihrem Wohnort im Zürcher Unterland joggen gegangen sei und ihr danach ein fremder Mann gefolgt sei. Er habe sie angesprochen und sie dann einfach begleitet, sie sei ihn nicht losgeworden. Er sei «klebrig» gewesen und ihr nachgelaufen. Zunächst habe sie gedacht, er könne vielleicht einfach nicht allein sein. Sie habe aber nie gedacht, dass der Typ angesichts ihres Alters etwas von ihr wolle.
Um ihn loszuwerden, sei sie in die Tiefgarage ihrer Wohnsiedlung hineingegangen und dann in ihren Keller, wo sie nach ihrem Velo habe sehen wollen. Plötzlich sei der Mann dort hinter ihr gestanden. Er habe sie gegen den Holzverschlag gedrückt, den Gürtel aufgerissen und befohlen: «Ich will dini Muschi gseh.» Die Frau erzählt ungewöhnlich viele Details. Der Mann habe zu ihr unter anderem gesagt: «Ich bin ein Schwein, ich bin gerne ein Schwein, ich liebe es, ein Schwein zu sein!»
Er habe versucht, sie vaginal zu vergewaltigen, das sei ihm aber nicht gelungen, weil sie sich gesperrt habe. Dann habe er es anal gemacht, was sie nicht habe verhindern können. Sie habe ihn darauf aufmerksam gemacht, dass doch jederzeit jemand in den Keller kommen könne, er habe erwidert: «Das wäre noch geil.»
Der beschuldigte 54-jährige Schweizer Sozialhilfebezüger macht vor Gericht selber keine Aussagen. In der Untersuchung hatte er gesagt, es habe sich um einen einvernehmlichen «Quickie» gehandelt. Er habe sich sogar gewünscht, mit der Frau eine Beziehung anzufangen.
Dagegen verwahrt sich die 65-Jährige. Das sei «unverschämt, erstunken und erlogen». Sie sei vom Joggen verschwitzt und kaputt gewesen. Da habe sie sicher nicht freiwillig ungeschützten Geschlechtsverkehr mit einem fremden «Sürmel», für den sie nur Ekel empfinde. Sie habe einen tollen, schönen Mann zu Hause.
Anzeige erstattete die Frau aber nicht und ging auch nicht zu einem Arzt. «Ich wollte meine Ruhe und versuchte es zu vergessen», sagt sie vor Gericht. Sie zittert zum Teil sichtlich.
Rund vierzehn Monate später, im September 2022, soll derselbe Mann der Frau erneut beim Joggen im Wald gefolgt sein. Gemäss Anklage sprach er sie auf den Vorfall im Juli 2021 an und soll sie wieder bedrängt und ihr unter anderem zwischen die Beine gegriffen haben. Dieser Vorgang ist als sexuelle Belästigung angeklagt. Erst jetzt erstattete die Frau Strafanzeige. Der Mann wurde identifiziert und sass 16 Tage in Haft. Danach wurde ein Kontakt- und Rayonverbot verfügt.
«Verwunderliches» Verhalten des Opfers
Die Staatsanwältin hat unter anderem versuchte Vergewaltigung und mehrfache sexuelle Nötigung eingeklagt. Gemäss dem damals noch gültigen alten Sexualstrafrecht galt das anale Eindringen nicht als Vergewaltigung. Das ist heute anders. Auch Tierpornografie und ein waghalsiges Überholmanöver mit einem Motorrad, bei dem der Beschuldigte stürzte und sich selber verletzte, werden ihm vorgeworfen.
Die Staatsanwältin verlangt für alle Delikte zusammen eine Freiheitsstrafe von viereinhalb Jahren. Der Anwalt der Frau beantragt eine Genugtuung von 20 000 Franken.
Der Verteidiger plädiert auf Freisprüche von den Sexualdelikten, einen Schuldspruch nur wegen qualifizierter grober Verletzung von Verkehrsregeln und eine bedingte Freiheitsstrafe. Beim zweiten Vorfall im September 2022 sei nur im Nackenbereich der Frau DNA des Beschuldigten gefunden worden und sonst nirgends. Das könne auch von einer kurzen Berührung stammen.
Die Erzählungen der Frau nennt er völlig unglaubwürdig und widersprüchlich. Vor allem ihr Verhalten nach der Tat sei nicht nachvollziehbar. Die Frau räumt nämlich ein, dem Beschuldigten ihre Telefonnummer gegeben und nach der Tat mindestens einmal mit ihm telefoniert zu haben. Dazu hat sie angegeben, sie habe damit klarstellen wollen, dass sie keine Beziehung mit ihm wolle.
Der Verteidiger betont, dass auch jegliche ärztliche oder psychologische Berichte fehlten. Mangels Beweisen lasse sich der Anklagesachverhalt nicht erstellen. Es sei die These denkbar, dass die Frau gegenüber ihrem Partner einen Seitensprung habe vertuschen wollen. Der Beschuldigte sage, die Frau habe ihn später besucht und in seiner Wohnung ein zweites Mal freiwillig mit ihm Sex gehabt.
Die Staatsanwältin erklärt, dass es sich eben nicht um ein stereotypisches Opfer handle. Das Nachtatverhalten erscheine tatsächlich verwunderlich. Dass die Frau mit dem Beschuldigten telefoniert habe, sei «ihre Art der Verarbeitung». Ihre Aussagen seien detailreich und glaubhaft. Sie habe sich die Freiheit bewahren wollen, weiterhin in ihrem Wald zu trainieren.
«Zweifel nur theoretischer Natur»
Das Bezirksgericht Bülach verurteilt den Mann zur beantragten Freiheitsstrafe von viereinhalb Jahren im Sinne der beantragten Straftatbestände und spricht dem Opfer eine Genugtuung von 10 000 Franken zu. Von einem der Vorwürfe, nämlich der sexuellen Belästigung beim zweiten Vorfall im September 2022, wird der Beschuldigte aber freigesprochen. Dies sei nicht erstellbar. Das DNA-Gutachten bestätige die Darstellung der Geschädigten dazu nicht.
Das Bezirksgericht kommt zwar zum Schluss, dass bezüglich Nebenaspekten und der Nachtatgeschichte tatsächlich Widersprüche bestünden. Das Verhalten der Frau sei «aussergewöhnlich» und «verwunderlich». Verarbeitungsprozesse seien aber individuell.
Das Gericht sei hingegen klar der Ansicht, es sei auszuschliessen, dass die Frau nach dem Joggen verschwitzt in einem Keller freiwillig Sex mit einem fremden Mann gehabt habe, erklärt der Gerichtsvorsitzende bei der Urteilsbegründung.
Was das Kerngeschehen angehe, seien die Ausführungen der Frau glaubhaft, detailreich und konsistent. Sie habe ihre Gefühle geschildert und Aussagen gemacht, die man nicht einfach erfinden könne. Die Zweifel seien nur theoretischer Natur. Im Gegensatz dazu seien die Aussagen des Beschuldigten stereotyp und wenig glaubhaft.
Der Verteidiger hat noch im Gerichtssaal Berufung angekündigt.
Urteil DG230037 vom 14. 3. 2025, noch nicht rechtskräftig.