Mittwoch, März 12

Urs Mühle ist seit fast fünfzig Jahren Teil des «Sozialkuchens». Lange kämpfte er für den Ausbau der Sozialhilfe. Heute nicht mehr. Im Gegenteil.

Als Urs Mühle Sozialarbeiter wurde, gab es das Wort noch gar nicht. Man konnte sich in den frühen 1970er Jahren als «Fürsorger» ausbilden lassen. Als echter Beruf galt das kaum, eher als netter Nebenjob für Frauen. Der Sozialstaat war mager, eine obligatorische Arbeitslosenversicherung gab es nicht, und die Fürsorge hatte mehr mit Almosen zu tun als mit der heutigen Sozialhilfe.

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Mühle wurde von einer Gruppe progressiver Hausärzte in Solothurn angestellt, um «schwierige» Patienten zu betreuen. Bald kam der Schock der Uhrenkrise mit vielen Arbeitslosen, die Drogenprobleme eskalierten, Aids breitete sich aus. Zunehmend hitzig wurde über die Rolle des Staats gestritten. Muss er mehr tun, um zu helfen? Die Politik reagierte, der Sozialstaat expandierte, Mühle war mittendrin.

Er bildete sich weiter und andere aus, als Dozent an Fachhochschulen und als Coach in der Privatwirtschaft, machte sich selbständig, leitete als Externer temporär Sozialdienste in mehreren Kantonen. Noch heute arbeitet der 72-Jährige als Berater, hat mit Klienten und Sozialarbeitern zu tun.

Wuchernde graue Locken, gepflegter Dreitagebart, Freude am Debattieren: Man kann sich Mühle gut als Achtundsechziger vorstellen. Er sagt von sich selbst, er sei Teil des «Sozialkuchens». Lange trug er dazu bei, dass dieser Kuchen wächst. Vieles verteidigt er noch heute, aber nicht alles – vor allem nicht das, was die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos) in der neusten Revision ihrer Richtlinien vorsieht, über die im Mai entschieden werden soll.

Herr Mühle, was stört Sie an den Plänen der Skos?

Dass man alles unternimmt, um die Sozialhilfe von einem einfachen System der Nothilfe zu einer umfassenden Versicherung auszubauen. Man drängt sich den Leuten fast schon auf und betreibt eine eigene Arbeitsintegration, obwohl das nicht Aufgabe der Sozialhilfe ist. Dieser Aus- und Umbau wird von Insidern vorangetrieben, praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne politische Debatte. Die neue Revision ist ein weiterer Schritt in diese Richtung.

Die Skos sagt, sie bringe weder eine Neuausrichtung noch substanzielle Mehrkosten.

Das ist ja das Problem, aus meiner Sicht braucht es unbedingt eine Neuausrichtung. Es läuft aus dem Ruder, wir müssen die Sozialhilfe zurückbauen. Die Balance zwischen Verantwortung des Einzelnen und Solidarität der Allgemeinheit stimmt nicht mehr. Wir entfernen uns vom Gedanken der Sozialhilfe als Grundsicherung für die elementaren Bedürfnisse: Wohnung, Ernährung, Gesundheit. Dieses Minimum muss garantiert sein. Daran will ich nicht rütteln, auch wenn – das möchte ich betonen – dieses Minimum in der Schweiz so grosszügig definiert ist wie wohl nirgends auf der Welt.

Übertreiben Sie jetzt nicht? Der Grundbedarf ist mit monatlich 1000 Franken für einen Single nicht extrem hoch.

Da kommen aber neben Miete und «situativen» Leistungen auch noch die ganze Bandbreite des Gesundheitswesens inklusive Zahnarzt hinzu, die Ausbildung der Kinder und anderes mehr. Familien mit Sozialhilfe sind heute oft besser situiert als wirtschaftlich unabhängige Familien mit tiefen Löhnen. Man sollte Wege finden, diese Working-Poor-Familien besserzustellen – finanziell, steuerlich, mit Sprachkursen oder Weiterbildung –, statt die Sozialhilfe immer weiter aufzustocken. Sie geht längst über die Grundsicherung hinaus. Unter dem Schlagwort der «sozialen Teilhabe» soll die Sozialhilfe laufend höheren Ansprüchen genügen. Man hält das für grosszügig und merkt nicht, dass es gesellschaftlich gefährlich ist. Der Staat sollte alles, was über die Grundsicherung hinausgeht, Hilfswerken und Stiftungen überlassen, die wichtige Arbeit leisten.

Wo sehen Sie konkret die Probleme der neuen Revision?

Zum Beispiel könnten Jugendliche, die es im Elternhaus nicht mehr aushalten, noch einfacher als heute eine eigene Wohnung auf Kosten der Allgemeinheit mieten. Ist das wirklich Aufgabe des Staates? Man will auch den Rechtsschutz ausbauen, damit alle Sozialhilfebezüger sich kostenfrei zur Wehr setzen können. Geplant ist zudem, die «situativen» Leistungen auszubauen, obwohl sie schon sehr weit gehen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Einmal hatte ich den Fall einer arbeitslosen Familie, die für ihre Tochter Beiträge für eine Klavierschule in Portugal bekam. Das ist schön, geht aber weit über die Grundsicherung hinaus. In einem anderen Fall wollte sich eine Frau die Reise an einen Weihnachtsmarkt in einer deutschen Stadt zahlen lassen. Wir lehnten ab. Später kam sie mit einem Arztzeugnis, laut dem es für sie wichtig sei, ihre Verwandten zu besuchen – in genau derselben Stadt. Wir mussten die Reise bezahlen, ein Rechtsstreit wäre teurer gewesen. Für mich sind das Symptome einer unguten Entwicklung.

Sind das nicht einfach fragwürdige Einzelfälle?

Es sind immer Einzelfälle. Die Individualisierung ist ein grundsätzliches Problem. Seit die Sozialhilfe nicht mehr von den Gemeinden und Kantonen, sondern auf nationaler Ebene durch die Skos gesteuert wird, sind die Vorgaben immer komplizierter und individualisierter.

Möchten Sie zurück in die Zeit, als es keine einheitlichen Richtlinien gab und Gemeinden versuchten, mittellose Haushalte mit tiefen Leistungen gegenseitig abzuschieben?

Nein, aber es ist eine Frage des Masses. Kritisch ist neben der Höhe der Hilfe auch der Detaillierungsgrad. Man hat den unrealistischen Anspruch, jedem Einzelfall gerecht zu werden. Damit überfordern wir das System und vor allem die Angestellten. In vielen Sozialdiensten ist die Fluktuation hoch. Die Ursachen sind überforderte Leitungen, Druck und Aggressivität im Tagesgeschäft sowie die Bürokratie. Externe Berater wie ich leben gut davon, dass sie einspringen können, wenn es irgendwo wieder eine Kündigungswelle gibt oder eine andere Krise.

Wie müsste die Sozialhilfe aus Ihrer Sicht ausgestaltet werden?

Man sollte mehr mit Pauschalen arbeiten und die «situativen» Leistungen stark reduzieren. Landet eine Person in der Sozialhilfe, soll man mit ihr ein grob berechnetes Gesamtbudget vereinbaren, das mindestens für ein Jahr gilt. Wie sie das Geld genau ausgibt, wäre ihr selbst überlassen.

Würde das gehen? Was ist, wenn jemand Miete oder Krankenkasse nicht bezahlt?

Bei den Ergänzungsleistungen funktioniert es. Wer wirklich nicht mit Geld umgehen kann, erhält eine Beistandschaft. Alle anderen sollen die Konsequenzen für ihr Handeln tragen, diese Verantwortung dürfen wir ihnen nicht abnehmen. Heute aber sind die Sozialdienste gezwungen, überall peinlich genau hinzuschauen. Zwei Drittel der Ressourcen gehen weg für Buchhaltung und Administration – auf Kosten der Beratung. Jeden Monat gibt es ein «Gestürm» um das Budget, man streitet über kleinste Posten. Und gerade weil man über jeden Rappen endlos verhandeln kann, entsteht eine schädliche Anspruchshaltung. Die Eigenverantwortung erodiert, das Familiensystem spielt keine Rolle mehr.

Das Familiensystem?

Der Sozialstaat hat viele Aufgaben übernommen, die früher Sache der Familie waren. Das ist auch gut so. Aber heute sind wir an einem Punkt, an dem wir nicht noch weiter gehen sollten. Nach wie vor gibt es familiäre Strukturen, die der Staat in die Verantwortung nehmen sollte. Zum Beispiel beim «Trennungstrick»: Wenn ein Paar in die Armut rutscht, trennt es sich, mietet eine zweite Wohnung – und kassiert zweimal Sozialhilfe. Das sollte es nicht geben. Hier müssten die Sozialdienste genauer hinschauen, statt Rappenbeträge im Budget zu kontrollieren. Gerade Menschen mit Migrationshintergrund, die etwa 60 Prozent der Sozialhilfebezüger ausmachen, haben oft starke familiäre Netzwerke. Statt sie zu nutzen, machen wir alles, um sie ihnen abzutrainieren.

Sie meinen, Ausländer sollten sich zuerst selbst helfen, bevor sie zum Sozialdienst gehen?

Bei allen – unabhängig von der Nationalität – sollten wir das familiäre Netz stärker einbeziehen. Kommt heute eine Frau mit zwei Kindern zum Sozialdienst, wird sie als Alleinerziehende eingestuft, auch wenn sie vielleicht gar nicht alleine ist, sondern einfach ohne Mann. Mit einem Arztzeugnis kann sie sogar versuchen, Beiträge für die Kinderkrippe zu bekommen, auch wenn sie selbst nicht arbeitet. Man zieht nicht einmal in Erwägung, ob Grosseltern oder andere Verwandte helfen könnten. Bei Schweizern geht es oft auch ums Geld: Wenn die Eltern nicht sehr reich sind, müssen sie nicht mithelfen, Notlagen ihrer Kinder zu lindern. Dabei wäre das oft möglich. Es gibt viele Menschen, die sich selbst helfen, ohne den Staat zu belasten.

Woher nehmen Sie diese Gewissheit?

Laut Studien gibt es Hunderttausende Armutsbetroffene, die keine Sozialhilfe beziehen. Die grosse Frage ist: wieso? Die Manager unseres Sozialwesens glauben zu wissen, dass das alles Menschen sind, denen nicht bewusst ist, dass sie Hilfe beantragen könnten, die man also um jeden Preis aufsuchen und aufklären muss. Mein Fazit ist ein anderes: Es gibt Personen, die sich selber organisieren, die ihre Notlage mit Freunden oder Familie überbrücken oder die nichts mit dem Staat zu tun haben wollen.

Womöglich gibt es auch Ausländer, die sich nicht melden, weil sie Angst haben, ihre Aufenthaltsbewilligung zu verlieren.

Davon ist auszugehen. Das sind normative Vorgaben der Politik, wie es sie immer gab. Im Detail kann man geteilter Meinung sein, aber es ist logisch, dass der Staat regeln muss, wer auf Kosten der Allgemeinheit hier leben darf. Ebenso natürlich ist es, dass es Menschen gibt, die sich ohne Sozialhilfe durchkämpfen wollen, um im Land bleiben zu können. Das ist positiv zu werten, wir sind auf motivierte Arbeitskräfte angewiesen.

Als die Aargauer SVP-Regierungsrätin Martina Bircher noch Gemeinderätin in Aarburg war, haben Sie für sie den Sozialdienst neu organisiert und die Sozialhilfequote gesenkt. Wie lief das?

Wir waren nicht in allen Punkten einig, konnten uns aber auf einen Plan einigen. Der Fokus lag auf den Jungen: Wenn sie bei der Integration nicht kooperierten, erhielten sie weniger Geld. Das wirkte. Wichtig war auch die Organisation: Wir haben die Arbeitsintegration von der Sozialhilfe getrennt. Einer zahlt das Geld aus, der andere unterstützt die Integration. Diese Rollen sollte man nicht vermischen. Das bewirkt zwar kurzfristig höhere Ausgaben, das muss man politisch aushalten. Mittelfristig lohnt es sich aber. Noch besser wäre, im ganzen Schweizer Sozialsystem gäbe es nur noch ein einziges Kompetenzzentrum für berufliche Eingliederung.

Was meinen Sie damit?

Heute betreiben alle ihre eigene Integration: Arbeitslosenversicherung, IV, Sozialhilfe, sogar die Suva – jeder versucht, auf seine Weise, Leute in den Arbeitsmarkt zurückzubringen. Das ist ineffizient und teuer, durch eine Fusion könnte man viele teure Stellen streichen. Auch die Rollen wären klarer, jeder konzentriert sich auf seine Aufgabe. Die IV etwa bezahlt jenen eine Rente, die darauf ein Anrecht haben – alle anderen aber weist sie zur Integration weiter.

Sie kritisieren die Sozialhilfe, aber es fällt auf, dass deren Ausgaben in letzter Zeit ungewöhnlich stabil waren und teilweise sogar gesunken sind.

Das verdanken wir der guten Wirtschaftsentwicklung. Gerade in solchen Zeiten ist es verlockend, das Leistungsniveau auszubauen und die Individualisierung voranzutreiben. Deshalb poche ich heute auf eine Trendwende: Bauen wir die Sozialhilfe nicht in guten Zeiten zurück, werden wir es in der nächsten Krise bereuen. Dann werden die Kosten und der Druck auf die Gemeinden massiv zunehmen. Im Interesse des ganzen Sozialwesens wäre es besser, wenn die Politik diese Entwicklung jetzt kritisch hinterfragen würde.

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