Mit seinem Drang, das Unerwartete zu wagen, hat es Emmanuel Macron weit gebracht. Doch mit der Ausrufung von Neuwahlen hat er den Bogen überspannt. Seine Machtbasis zerfällt. Warum hat er das getan?

Beim letzten Mal, als Emmanuel Macron in ein Mikrofon sprach, wirkte er locker und selbstbewusst. «In keinem Moment», sagte er, habe er die Entscheidung vom 9. Juni, die vorgezogene Neuwahl bereut. «Über die Entscheidungen, die ich treffe, denke ich nach.» Es war Sonntagmorgen, der 30. Juni, und der französische Präsident und seine Frau hatten soeben in der Stadthalle von Le Touquet ihre Wahlzettel in die Urne geworfen. Am gleichen Tag liess er sich dabei filmen, wie er mit seiner Frau durch den Ferienort am Ärmelkanal spazierte und freundlich lächelnd Hände schüttelte – in Jeans, Baseball-Kappe und Lederjacke. Alles locker beim Präsidenten.

Seither ist es still um Macron. Kurz nachdem am Sonntagabend die ersten Hochrechnungen den historischen Erfolg des Rassemblement national ankündigten, veröffentlicht die Presseabteilung des Élysée-Palasts ein dürres Communiqué: Der Präsident rufe zu einer grossen, klar demokratischen und republikanischen Sammelbewegung gegen die Le-Pen-Partei auf. Welche Kandidaten von welcher Partei diese Kriterien erfüllen, lässt er offen. Der Mann, der sonst selten um eine klare Ansage verlegen ist, bleibt vage.

Zauberlehrling, Pokerspieler, Versager

In seinem Umfeld regiert derweil das Chaos. Selbst enge Vertraute, haben bis heute nicht verstanden, was Macron mit dieser Neuwahl wollte. Und dies, obwohl er seine Gedanken dazu ein paar Tage nach dem Schritt öffentlich erklärt hatte: Sie diene der politischen Klarheit. Er vertraue den Wählerinnen und Wählern, dass sie die richtige Entscheidung treffen würden. Die Wogen glättete er damit nicht.

Im Wahlkampf während der letzten drei Wochen war der Präsident regelrecht unerwünscht. Bloss kein Foto auf den Wahlplakaten und möglichst wenige Auftritte, murmelten Kandidaten, die dennoch für seine Partei Renaissance antraten. Andere entschieden, parteilos um einen Sitz in der Nationalversammlung zu werben. Als wäre jegliche Verbindung zum Präsidenten ein Nachteil.

Er sei ein Zauberlehrling, ein Spieler, der hoch pokere, lauten die milderen Urteile, die nach und nach die Runde machen. Andere attestieren ihm «kindischen Narzissmus», «Wahnsinn» oder schlichtweg politisches Versagen. Schliesslich ist nach dem ersten Wahlgang nun offensichtlich: Macron zerstört, was er in den letzten Jahren erschaffen hat: eine Bewegung der politischen Mitte, die bisher eine Parlamentsmehrheit hatte. Machtpolitisch ist der Schritt nicht zu rechtfertigen.

In den sieben Jahren seiner Präsidentschaft hat sich immer wieder gezeigt, wie Macron Politik macht: Er mag es antizyklisch, disruptiv, und nicht selten entscheidet und handelt er ziemlich allein. Er mag es nicht, wenn sich Entscheidungen aufdrängen, weil sie angeblich alternativlos seien oder von der Presse herbeigeschrieben werden. «Chef über die Uhr» wolle er sein, sagen die Franzosen und meinen damit, dass er, fast schon allmächtig, bestimmt, was wann geschieht. Von dem Plan, das Parlament aufzulösen, haben die Mitglieder seiner Regierung eine gute Stunde vor seiner öffentlichen Ansprache erfahren. Alle Umstimmungsversuche waren zwecklos.

Im Grunde war der 46-Jährige über weite Strecken seines Lebens ein Einzelkämpfer, der sich immer wieder entschlossen gegen Konventionen stellte – und sich bisweilen durchsetzte. Zum Beispiel, als er mit 16 Jahren eine Beziehung mit seiner um 24 Jahre ältere Theatergruppenleiterin Brigitte Auzière einging. Die Eltern waren nicht begeistert, und auch die Familie der verheirateten Französischlehrerin mit drei Kindern hoffte darauf, diese Liebe möge bald verfliegen. Inzwischen sind Emmanuel und Brigitte seit 17 Jahren verheiratet, offiziell ein Paar sind sie seit rund zweieinhalb Jahrzehnten.

Empathisch gegen Strom

Auch als Präsident hat Macron immer wieder versucht, abseits der ausgetreten Pfade zu gehen. Beim Ausarbeiten von Reformen überging er Gewerkschaften und Berufsverbände. Einen Ausweg aus der Gelbwesten-Krise suchte er, indem er tagelang direkt mit den wütenden Bürgerinnen und Bürgern debattierte. Er traf Wladimir Putin noch, als sich der Rest des Westens längst von ihm abgewandt hatte. Und er provozierte immer wieder mit scheinbar unbedachten Bemerkungen, in denen ein wahrer Kern steckte: über den Hirntod der Nato etwa, oder als er in Gegenwart des deutschen Kanzlers sagte, die Entsendung von Bodentruppen in die Ukraine sei nicht ausgeschlossen. Macron irritierte oft, und bisweilen verrannte er sich. Am Ende einer solchen Episode ging es aber immer irgendwie weiter. Dass er nicht unbedingt als Sieger vom Platz ging, hat seinem Selbstbewusstsein nie geschadet.

Seine Entschlossenheit und das Unkonventionelle haben Macron erst ermöglicht, dass er mit nur 39 Jahren Präsident Frankreichs wurde. Typen wie er – jung, bestens ausgebildet und ehrgeizig – gibt und gibt es in Frankreich viele. Aber dieser Ärztesohn aus Amiens war irgendwie anders: selbstbewusst, interessiert, direkt, energisch – nicht wenige sagten sogar empathisch. Mit seinem Optimismus und seiner enthusiastischen Art gewann er nach und nach einen einflussreichen und breit abgestützten Fan- und Förderkreis für sich, darunter Linke wie Konservative und wichtige Unternehmer. Als ihr Schützling zum ersten Mal ins Präsidentenamt gewählt wurde, konnten sie von ihm und seiner Aura profitieren – zumal Macron nicht nur in Frankreich, sondern auch im Ausland begeisterte. Erst später merkten sie, dass er bisweilen weiterzieht, sobald eine Bekanntschaft, und scheint sie noch so verbindlich, ihren Zweck erfüllt hat.

Seine Biografin Anne Fulda schreibt, Macron sei angetrieben von der Sehnsucht nach Bewunderung und Anerkennung – besonders derer, die ihm keine Wertschätzung entgegenbringen, oder solcher, die älter und (wissens)mächtiger seien als er. Er wolle sie erobern, sie «herumkriegen». Das lässt sich noch heute beobachten, wenn Macron sich bei zufälligen Begegnungen mit Bürgern auf ein Streitgespräch einlässt. Er hört zu und lässt dann nicht locker, um seine Kritiker von der Richtigkeit seiner Argumente zu überzeugen.

Die Strategie hat lange funktioniert. Nun hat sie sich zunehmend abgenutzt, zumal sich zu Macrons Höflichkeit eine Überheblichkeit gemischt hat, die bei der Bevölkerung nicht gut ankommt. Schon bei der letzten Wahl vor zwei Jahren haben sich weniger Französinnen und Franzosen von ihm «herumkriegen» lassen. Für viele bedeutete die Rentenreform, die Macron im vergangenen Jahr gegen den Willen der Bevölkerung – und des Parlaments – durchboxte, den endgültigen Bruch.

Weggefährten am Abgrund

Auch unter seinen politischen Weggefährten wurde in den vergangenen zwei Jahren bisweilen laut gemurrt; das verschärfte Immigrationsgesetz hat zu Beginn dieses Jahres zwei Minister um ihre Posten gebracht. Die Mehrheit aber hielt Macron die Treue und verteidigte seinen Kurs.

Vor drei Wochen hat er den Bogen jedoch endgültig überspannt. Denn mit der Neuwahl hat er seine Getreuen an den Rand des Abgrunds gestossen. Es war absehbar, dass seine Minister und auch viele Abgeordnete ab kommender Woche einen anderen Job suchen müssen. Kein Wunder, verlassen seine Gefolgsleute schon jetzt nach und nach das sinkende Schiff.

Emmanuel Macron hat vermutlich weniger Mühe mit dem Alleinsein als damit, dass ihm niemand mehr zuhört. Genau das droht ihm aber. Ein neuer Regierungschef – und sei es ein Technokrat – wird alles dafür tun, um sich von Macron zu distanzieren. Dieser darf sich zwar offiziell noch in der Aussenpolitik betätigten. Doch im Ausland wird man sich fragen, was der Präsident in Paris überhaupt noch bewirken kann. Hofft er etwa darauf, als Stimme der Vernunft neben einem vielleicht erratischen wirkenden Regierungschef wieder an Gewicht zu gewinnen? Anne Fulda zitiert einen seiner Vertrauten, der Macron als einen fortwährend Unzufriedenen beschrieb. Einer auch, der gleich einem Spieler, immer wieder alles auf eine einzige Karte setze.

Schon werden Stimmen laut, die sagen, der Präsident werde unter diesen Umständen seine zweite Amtszeit nicht beenden und vor 2027 zurücktreten. Es wäre ein untypischer Schritt für ihn. Zum einen, weil er jetzt schon herbeigeschrieben wird. Zum anderen, weil er damit einen weiteren Wesenszug von Emmanuel Macron verraten würde: die Überzeugung, dass man sich verrennen kann, es aber doch immer irgendwie weitergeht.

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