Dienstag, November 26

Es ist ein riskanter, aber strategischer Schritt, der zur aussenpolitischen Tradition passt.

Vor fünfzig Jahren nahm Brasilien diplomatische Beziehungen zu China auf – vier Jahre vor der Öffnungspolitik von US-Präsident Nixon gegenüber Peking. Die brasilianisch-chinesische Offensive überrascht bis heute: Denn Brasilien wurde damals von Militärs regiert, die einen strikten antikommunistischen Kurs verfolgten. Sie waren mit Unterstützung der USA an die Macht gekommen, um in Brasilien eine Revolution wie in Kuba zu verhindern.

Dennoch wollte der deutschstämmige General und damalige Präsident Ernesto Geisel die Abhängigkeit Brasiliens von den USA verringern und nahm diplomatische Beziehungen zur Volksrepublik China auf. Seine Aussenpolitik wird heute als «Pragmatismus ohne Ideologie» bezeichnet.

Fünfzig Jahre später scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Brasilien setzt erneut auf die Partnerschaft mit China und öffnet sich Peking zu einem Zeitpunkt, zu dem die USA und der Westen die asiatische Weltmacht zunehmend kritisch betrachten.

Viel Pomp und Ehre für Xi in Brasilia

Zum Jubiläum der Regierungsbeziehungen zwischen China und Brasilien fand vergangene Woche direkt im Anschluss an den G-20-Gipfel in der Hauptstadt Brasilia ein Staatsempfang für Xi Jinping statt. Selbst langjährigen Beobachtern der brasilianischen Aussenpolitik fällt kaum ein Staatsbesuch ein, der hinsichtlich Pomp und Ehrenbezeugungen mit der Veranstaltung vergleichbar wäre. Es dürfte derzeit kaum ein anderes Staatsoberhaupt geben, das Präsident Lula da Silva mit ähnlichem Aufwand empfangen würde.

Die beiden Staaten haben ihre Zusammenarbeit nun formell auf eine neue Ebene gehoben. Seit dreissig Jahren besteht eine strategische Partnerschaft. Seit 2012 gibt es eine bilaterale Kommission, die Zehnjahrespläne für die Zusammenarbeit erarbeitet.

Für ihre aufgewertete Zusammenarbeit haben die beiden Staaten nun ein etwas sperriges Label gefunden: die «brasilianisch-chinesische Schicksalsgemeinschaft einer gemeinsamen Zukunft für eine gerechtere Welt und einen nachhaltigeren Planeten der Menschheit» (Comunidade de Futuro Compartilhado Brasil-China por um Mundo mais Justo e um Planeta mais Sustentável). Darin fliessen sowohl der von Xi und der chinesischen Aussenpolitik geprägte Begriff der Schicksalsgemeinschaft als auch Lulas Anspruch ein, die Armut in der Welt zu reduzieren und den Schutz der Regenwälder voranzutreiben.

Dem Drängen Chinas, ein Abkommen im Rahmen der neuen Seidenstrasse zu unterzeichnen, hat Lula aber widerstanden. Er kann sich diese formale Zurückhaltung gegenüber China leisten, denn Brasilien verhandelt mit Peking aus einer Position der Stärke: China ist zwar der grösste Handelspartner des Landes. Im Gegensatz zu vielen anderen Staaten hat Brasilien aber einen hohen Handelsbilanzüberschuss gegenüber China.

Chinas Autokonzerne greifen die Europäer in Brasilien an

Lula und Xi unterzeichneten 37 Abkommen. Anders als in den beiden Jahrzehnten zuvor geht es dabei kaum noch um die Rohstoffversorgung Chinas mit Soja, Öl oder Eisenerz. Das funktioniert mittlerweile so gut, dass Brasilien heute mehr nach China exportiert als in die USA und nach Europa zusammen.

Auch brasilianische Infrastrukturprojekte mit chinesischer Beteiligung gibt es nach wie vor: So wird Chinas Spacesail, ein Anbieter von Satellitenkommunikation, in Brasilien eine Lizenz erhalten und dort mit Elon Musks Starlink konkurrieren.

China will Brasilien aber verstärkt als Industriestandort nutzen und Wertschöpfungsketten in Südamerika aufbauen. Zwei Autohersteller – BYD und GWM – errichten derzeit Fabriken in Brasilien, die weltweit grössten ausserhalb Chinas. Ihr Marktanteil bei Elektroautos wächst schnell, auch Exporte aus Brasilien scheinen geplant zu sein.

Die beiden Länder setzen auch auf gemeinsame Forschungs- und Technologiekooperationen. In der Nukleartechnik, der Landwirtschaft oder der Solarenergie soll gemeinsam geforscht werden, Standards und Regulierungen sollen in separaten Abkommen angepasst werden.

Der Schwerpunkt der Zusammenarbeit zwischen China und Brasilien liege nun auf sieben oder acht Bereichen, denen China im In- und Ausland Priorität eingeräumt habe, sagt Margaret Myers von der amerikanischen Denkfabrik Inter-American Dialogue: Elektroautos, Batterien, Solarenergie, Materialien für die Energiewende, künstliche Intelligenz, Biopharmazeutika, Biotechnologie, medizinische Geräte.

Es sind Bereiche der Spitzentechnologie. Im Mittelpunkt der chinesischen Investitionen in Lateinamerika stehen nicht mehr wie in den vergangenen zwanzig Jahren die Energie-, die Nahrungsmittel- und die Rohstoffsicherung Chinas. Margaret Myers sagt: «Der Fokus liegt auf innovationsbezogenen Sektoren.»

China ist für Brasilien deutlich attraktiver als Europa

Mit der Investitionsinitiative im industriellen Sektor greifen chinesische Unternehmen genau die Branchen an, in denen europäische Konzerne in Brasilien schon lange präsent sind. Der brasilianische Pkw- und Lkw-Markt ist etwa für Unternehmen wie Volkswagen und Stellantis ebenso wie für Daimler, Scania und Volvo einer der Schlüsselmärkte weltweit. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis chinesische Konzerne den Europäern den Rang ablaufen.

Für Brasilien ist China als Partnerland aus zwei Gründen attraktiver als Europa:

  • China tritt anders als die Europäer in Südamerika nicht mit dem erhobenen Zeigefinger auf, etwa bei Umweltthemen. Vielmehr geht China Umweltthemen aktiv an, indem es sich als Technologielieferant für die Energiewende einsetzt.
  • China ist finanziell potenter als europäische Konzerne und Regierungen, die sich in Südamerika zurückhalten. Die Gründe dafür liegen in den Krisen ihrer eigenen Volkswirtschaften und politischen Systeme sowie im Krieg auf dem eigenen Kontinent.

Ein Beispiel für die europäische Zurückhaltung ist das seit mehr als zwanzig Jahren verhandelte Abkommen zwischen dem Mercosur und der EU sowie der Efta. Das Abkommen soll in den nächsten Wochen unterzeichnet werden. Bislang scheiterte dies vor allem daran, dass sich die Europäer nicht einig sind, wie sie die Beziehungen zu Brasilien, der mit Abstand grössten Wirtschaftsmacht im Mercosur, gestalten wollen.

Brasilien könnte von der Abschottungspolitik der USA profitieren

Brasiliens nun gestärktes Bündnis mit China ist auch für das künftige Verhältnis zu den USA von strategischer Bedeutung: Trump dürfte die Politik zu Lateinamerika in ein enges Freund-Feind-Schema einteilen.

Hätte Brasilien das Abkommen mit China zur neuen Seidenstrasse unterzeichnet, würde es die Trump-Administration vor den Kopf stossen. Mit den stattdessen unterschriebenen Verträgen hat es einen Kompromiss gefunden. Brasilien hat wie die USA ein Interesse an einer funktionierenden Kooperation.

Für die USA gilt das umso stärker wegen der chinesischen Offensive in Lateinamerika. Brasilien könnte hingegen von der nordamerikanischen Abschottungspolitik gegenüber China profitieren.

Unter Trumps erster Regierung sind die brasilianischen Soja-, Mais- und Fleischexporte nach China stark gestiegen – auf Kosten der amerikanischen Landwirtschaft. Gut möglich, dass Brasiliens Farmer und Bergbaukonzerne ihre Exporte nach China nun wieder ausweiten.

Brasiliens Streben nach Äquidistanz zu China und den USA entspricht der brasilianischen aussenpolitischen Tradition. Für die neuntgrösste Volkswirtschaft und geopolitische Mittelmacht ergibt diese Strategie ökonomisch und politisch Sinn.

Exit mobile version