Mittwoch, Januar 15

Mit grosser Mehrheit haben sich die Stimmberechtigten in Steckborn für ein Bundesasylzentrum ausgesprochen. Ein Antrag auf Kündigung des Mietvertrags mit dem Bund blieb chancenlos.

An dem Tag, an dem sich die Stadt Bern zum «sicheren Hafen» erklärt, bereitet sich Steckborn auf die ausserordentliche Gemeindeversammlung von Donnerstag vor. In Bern will man aus dem Mittelmeer gerettete Migranten künftig direkt aufnehmen. Das sei mehr als Symbolpolitik, sagt die grüne Gemeinderätin Franziska Teuscher. «Das ist ein weiterer konsequenter Schritt im städtischen Engagement für eine menschliche und aktive Asyl- und Flüchtlingspolitik.»

Pinkeln, trinken, grölen

Konsequenzen hat die Erklärung für die Berner Bevölkerung aber keine. Für die direkte Aufnahme von Flüchtlingen ist in der Schweiz der Bund zuständig. Im Moment betreibt er über 40 Zentren, mehr als die Hälfte provisorisch. Eines davon ist die Zivilschutzanlage Brühl in Steckborn am Bodensee. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hat hier 112 Männer und Frauen untergebracht. Sie alle haben einen negativen Entscheid erhalten.

Für die unterirdische Anlage zahlt der Bund der Stadt Steckborn jährlich 200 000 Franken. Als Standortgemeinde eines Bundesasylzentrums muss sie weniger Flüchtlinge in eigenen Wohnungen unterbringen. Im Moment seien sieben Personen privat untergebracht, sagt Stadtpräsident Roland Toleti. Zusätzlich zu den 36 Ukrainerinnen und Ukrainern, die die Stadt aufgenommen hat. Wird das Asylzentrum geschlossen, gilt für Steckborn wieder derselbe Verteilschlüssel wie für die anderen Thurgauer Gemeinden auch. Dann muss die Stadt Unterkünfte für weitere elf Personen finden.

Nun steht Roland Toleti auf der Tribüne der Feldbach-Turnhalle und versucht so ruhig wie möglich zu wirken. Heute Abend entscheiden die Stimmberechtigten darüber, ob der Bund die Zivilschutzanlage Brühl weiterhin für Asylbewerber betreiben kann oder ob die Stadt den Mietvertrag kündigen muss. Eine Interessengemeinschaft (IG) hatte in knapp zwei Wochen genug Unterschriften gesammelt, um eine ausserordentliche Gemeindeversammlung zu erzwingen.

Die Zivilschutzanlage Brühl liegt mitten in einem Wohnquartier. Bei den Mitgliedern der IG handelt es sich zum grössten Teil um Nachbarn. Zwar verzeichnet die Polizei seit der Eröffnung des Zentrums unwesentlich mehr Straftaten als früher, doch im Quartier fühlt man sich gestört. Anwohnerinnen und Anwohner beklagen sich über Männer, die draussen an Bäume pinkeln, trinken, grölen und Frauen anmachen.

Zum Beweis stellte die IG Bilder aus Überwachungskameras auf ihre Website. Doch dann wurde die Seite gehackt und abgeschaltet. Die Gegner des Asylzentrums haben nicht nur Freunde. Keine einzige politische Partei unterstützt ihr Anliegen. Sogar die SVP beschloss Stimmenthaltung. Die Anlage bringt dem Städtchen viel Geld. Ein Restaurant liefert das Essen, Handwerker erhalten Aufträge, und die SVP ist die Partei des Gewerbes. Auf die Beweggründe der Parteien angesprochen, sagt Toleti lieber nichts. Er ist parteilos.

Es ist nicht das erste Mal, dass sich Gemeinden gegen ein Asylzentrum wehren. Im 180-Seelen-Dorf Wolfisberg im Kanton Bern wollen die Behörden 120 Asylsuchende in einem alten Hotel unterbringen, in der St. Galler Gemeinde Ebnat-Kappel sollen 120 junge Männer in einem ehemaligen Altersheim unterkommen, und in Arth-Goldau im Kanton Schwyz soll ein ehemaliger Campingplatz zu einem Containerdorf für Asylsuchende umgebaut werden. Doch Steckborn gilt als Präzedenzfall. Zwingt die Gemeindeversammlung den Stadtrat dazu, den Mietvertrag für das Zentrum zu kündigen, dürften bald auch in anderen Gemeinden Unterschriften gesammelt werden.

Entsprechend gross ist das Interesse der Medien. Der «Blick» schrieb von einer gespaltenen Gemeinde, die «Sonntags-Zeitung» von einem «Dorf im Ausnahmezustand», und die «Thurgauer Zeitung» hielt den Anwohnern vor, sie hätten «einen viel zu kurzsichtigen Blick». Auch deshalb ist Roland Toleti etwas nervös. Für die vielen Journalisten musste eine ganze Sitzreihe reserviert werden. Ein Novum in Steckborn.

Eigentlich ist in Steckborn zum Thema Asylzentrum schon alles gesagt. Doch an der Gemeindeversammlung werden alle Argumente nochmals wiederholt. Daniel Vuilleumier, der Sprecher der IG, ein Arzt, sagt, bei seinen Mitstreitern handle es sich um ganz normale Menschen, keine Rassisten. Auch die Bewohner der Anlage seien ganz normale Menschen. Allerdings handle es sich bei ihnen fast ausschliesslich um junge frustrierte Männer mit einem Negativentscheid. Den Rest könne man sich vorstellen.

Besoffene? Das sind die vom FC

Stadtpräsident Toleti beteuert, es gehe nicht ums Geld, sondern um Solidarität. Würde der Mietvertrag gekündigt, müsste der Kanton die Menschen anderen Gemeinden zuweisen. Der Vertreter des SEM weist darauf hin, dass die Betreuung der Asylsuchenden eine Verbundaufgabe sei. Der Kommandant der Kantonspolizei sagt, aus kriminaltechnischer Sicht gebe es keine Hinweise darauf, dass sich das Asylzentrum negativ auf die Sicherheitslage im Städtchen auswirke. Pro Monat lasse sich höchstens ein Delikt auf die Bewohner der Anlage zurückführen. Statistisch sei das irrelevant.

Offenbar sieht auch die Bevölkerung kein Problem im Asylzentrum. Ein Votant weist darauf hin, dass die einzigen Besoffenen, die er jeweils sehe, Angehörige des FC seien, ein anderer sagt: «Apropos FC, man würde besser über einen neuen Fussballplatz abstimmen.» Fünf Minuten später ist die Versammlung bereits vorbei. Die grosse Mehrheit der Stimmberechtigten will den Vertrag mit dem Bund nicht kündigen. Steckborn hat sich entschieden. Das Asylzentrum darf bleiben. Das Städtchen hat sich mit grosser Mehrheit zum sicheren Hafen erklärt.

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