Donnerstag, Juli 4

Zum Auftakt der EU-Rats-Präsidentschaft seines Landes hat der ungarische Regierungschef erstmals seit Kriegsbeginn die Ukraine besucht. Bisher war Orban vor allem durch Obstruktionspolitik aufgefallen – wird er nun plötzlich konstruktiv?

Ungarns EU-Rats-Präsidentschaft beginnt mit einem Coup. Nur einen Tag nach der Übernahme des alle sechs Monate rotierenden Amtes ist der ungarische Regierungschef Viktor Orban am Dienstag zu einem Überraschungsbesuch nach Kiew gereist.

Im Zentrum der Kurzvisite, die nur wenige Stunden dauerte, stand ein Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski. In einer kurzen Stellungnahme nach dem Gespräch sprach sich Orban für einen Waffenstillstand entlang der gegenwärtigen Frontlinie aus. Dies würde künftige Friedensgespräche beschleunigen.

Auf diesen Vorschlag ging der ukrainische Präsident, der die Wiederherstellung der territorialen Unversehrtheit seines Landes immer zur Vorbedingung eines Friedensprozesses gemacht hat, vor der Presse nicht ein. Selenski stellte aber ein Abkommen zur Förderung der bilateralen Beziehungen in Aussicht.

Konsequente Obstruktionspolitik

Mindestens so wichtig wie der Inhalt der Gespräche ist ihr Symbolgehalt. Es ist Orbans erste Reise in die Ukraine seit dem Beginn von Russlands Invasion im Februar 2022 und sein erstes offizielles bilaterales Treffen mit Selenski überhaupt. Die beiden Politiker hatten sich letztmals am Rande der Amtseinführung des argentinischen Präsidenten Javier Milei im Dezember in Buenos Aires kurz getroffen.

Orban hat sich seit Kriegsbeginn gegen die militärische Unterstützung der Ukraine gestellt und immer wieder dem Westen vorgeworfen, nicht an einer friedlichen Lösung interessiert zu sein. Den offensichtlichsten Weg zur Beendigung des Krieges – Moskaus Anerkennung der ukrainischen Souveränität und den Abzug aller russischen Truppen aus dem Land – erwähnte er dabei aber nie.

Orban erschwerte auch sonst eine gemeinsame sicherheitspolitische Antwort auf die russische Bedrohung, indem er etwa lange Schwedens Beitritt zur Nato blockierte. Ebenfalls lehnte er es ab, Kiew den Status eines EU-Beitritts-Kandidaten zu verleihen. Orban spricht sich zwar für eine Erweiterung der Union aus, hat dabei aber vornehmlich die Staaten des westlichen Balkans im Blick, allen voran Serbien. Der serbische Präsident Aleksandar Vucic ist ein enger Verbündeter Orbans und pflegt auch ein ähnliches Demokratieverständnis.

Zudem unterhält Orban weiterhin engen Kontakt zu Moskau. Letztmals traf er Putin im Oktober anlässlich einer Veranstaltung in Peking zur chinesischen Belt-and-Road-Initiative. Auch zu China, dem zweiten grossen geopolitischen Kontrahenten des Westens, pflegt der ungarische Regierungschef beste Beziehungen. All das trägt dem Regierungschef des EU- und Nato-Staats Ungarn den Ruf ein, eher ein Verbündeter Putins als des Westens zu sein.

Budapest und Kiew streiten aber auch über bilaterale Fragen. Dazu gehört ein ukrainisches Minderheitengesetz, das höhere Hürden für nicht in Ukrainisch gehaltenen Unterricht vorsieht. Das Gesetz soll in erster Linie die Landessprache gegenüber dem Russischen stärken, das im Süden und im Osten des Landes noch immer verbreitet ist. Es betrifft aber auch Minderheiten wie die Ungarn oder Rumänen in der Westukraine.

Ob es Orban bei der grundsätzlich berechtigten Kritik primär um den Minderheitenschutz ging oder ob die Kontroverse auch als Vorwand für seine allgemeine Obstruktionspolitik diente, ist unter Beobachtern umstritten. In Rumänien gab das ukrainische Sprachengesetz anfänglich ebenfalls zu reden. Nach Anpassungen, mit denen die wichtigsten Kritikpunkte aufgegriffen wurden, ist das Thema aber weitgehend aus der öffentlichen Debatte verschwunden.

Orban hat nachgegeben

Die Reise nach Kiew wird nun zur Entspannung im schwierigen Verhältnis zwischen den beiden Nachbarn beitragen. Das ist aber nicht das einzige Ziel. Orbans Obstruktionspolitik hat in der Ukraine-Frage eine Menge Staub aufgewirbelt. Viel Zählbares hat der ungarische Regierungschef für sein Land dabei aber nicht erreicht.

Zwar gelang es ihm, mit seinem anfänglichen Veto gegen das Ukraine-Hilfspaket einen Teil der blockierten Gelder aus dem Kohäsionsfonds freizupressen. In den meisten anderen Bereichen musste er seinen Widerstand aber letztlich ohne Gegenleistung aufgeben. Das gilt für die Russland-Sanktionen, die Ungarn zähneknirschend mitträgt, bei den EU-Milliarden für Waffenkäufe oder für den Nato-Beitritt Schwedens, wo Orban nach der Zustimmung der Türkei ebenfalls nachgeben musste.

Hier wurden die unterschiedlichen Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse besonders deutlich. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sah in dem Beitrittsgesuch aus Stockholm früh die Möglichkeit, dem Westen Konzessionen abzupressen. Orban hoffte, es ihm gleichtun zu können. Doch Ungarn ist nicht die Türkei.

Ankara ist nur schon aus geografischen Gründen ein Schlüsselakteur für die Sicherheitspolitik im Schwarzmeerraum und verfügt zudem über die zweitgrösste Armee der Nato. Ausserdem hat man sich im Westen damit abgefunden, dass unter Erdogan die Zusammenarbeit mit der Türkei vor allem transaktional ist. Für den kleinen mitteleuropäischen EU-Staat Ungarn gilt das nicht.

Ein Ausweg aus der Isolation?

Orban hat das Gewicht seines Landes überschätzt und dieses dabei innerhalb der EU weitgehend isoliert. Auch die Europawahlen haben trotz dem allgemeinen Rechtsruck nicht den erhofften Befreiungsschlag gebracht. Orbans Partei Fidesz musste in Ungarn Federn lassen. Vor allem aber scheiterte der Fidesz am Ziel, der nationalkonservativen Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) beizutreten.

Ein wichtiger Grund dafür war Orbans russlandfreundlicher Kurs. Die stärkste Kraft innerhalb der EKR ist die Partei von Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni, einer entschiedenen Unterstützerin der Ukraine. Dass Orban nun zusammen mit den Freiheitlichen aus Österreich und der Partei des früheren tschechischen Regierungschefs Andrej Babis die Gründung einer neuen rechtsnationalen Fraktion anstrebt, erscheint vor diesem Hintergrund eher als Verlegenheitslösung.

In Budapest dürfte man zum Schluss gekommen sein, dass eine etwas konstruktivere Ukraine-Politik die ungarische Position innerhalb der EU stärken wird, besonders während der Ratspräsidentschaft. Das macht den Opportunisten Orban nicht zu einem einfachen Partner und erst recht nicht zu einem glühenden Unterstützer der Ukraine. Ein wenig aufatmen dürfte man in Brüssel und Kiew dennoch.

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