Montag, Dezember 30

Oleksandr Fediurko ist ein hochbegabter Jungpianist. Diese Woche tritt der 13-Jährige an einem internationalen Klavierwettbewerb in Uster und in Zürich auf. Ein Anlass, der unpolitisch sein will und trotzdem politisch ist.

Der Schockmoment kommt mitten in der Ballade Nr. 4 von Frédéric Chopin. Die jugendliche Pianistin aus China rutscht plötzlich vom Stuhl. Sie kann sich gerade noch auf den Beinen halten und weiterspielen. Sekunden später kommt es noch schlimmer: Die 13-Jährige fällt fast hin auf der Bühne. Sie muss sich abstützen am Flügel und ihren Vortrag kurz unterbrechen. Fatalerweise hatte sie sich nur knapp auf die Kante des Klavierstuhls gesetzt.

Das Publikum in der Aula der Kantonsschule Uster hält den Atem an.

Ein Jurymitglied springt der Chinesin bei und stützt den Stuhl diskret von hinten. Die Teilnehmerin bringt ihren Auftritt tapfer zu Ende. Aufstehen, verbeugen, Applaus. Dann tritt sie ab, mit versteinerter Miene. Für sie dürfte «Charkiw trifft Zürich», ein internationaler Wettbewerb für Klaviertalente, der diese Woche in Uster und in Zürich stattfindet, bereits gelaufen sein. Der Lapsus wird Punkte kosten.

Die Organisatoren reagieren umgehend: Ein Fussabtreter wird hergebracht. Der rutschfeste Teppich soll dafür sorgen, dass sich solche Szenen bei den Darbietungen der folgenden Jungpianisten auf keinen Fall wiederholen.

«Charkiw trifft Zürich»?

Der Name der Veranstaltung verweist auf die Metropole im Osten der Ukraine, Heimatort eines renommierten Wettbewerbs für Nachwuchspianisten. Seit 1992 treten dort Kinder und Jugendliche aus aller Welt auf. Nach ukrainischen Angaben handelt es sich um eine der wichtigsten Veranstaltungen für junge Musiker überhaupt. 2014 jedoch musste das Treffen wegen des Konflikts mit bewaffneten prorussischen Separatisten im nahen Donbass abgesagt werden, 2022 wegen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine.

Wie kommt es, dass der Anlass in diesem Jahr an der Kantonsschule Uster durchgeführt wird?

Lebensfreude vermitteln

Das kann Patrick Ehrismann beantworten. Der Rektor des Gymnasiums will seine Schülerinnen und Schüler für klassische Musik begeistern, ihnen Lebensfreude vermitteln. Das gehöre auch zu den Aufgaben einer Mittelschule. Der 57-Jährige, der bis zur Matur Gitarre gespielt hat, sagt: «Es geht um Hören, Spielen, Machen, Fühlen. Ich habe geistig enorm profitiert, auch wenn ich heute nicht einmal mehr klimpern kann.» Daher war für den Schulleiter klar, dass er alle Hebel in Bewegung setzen würde, um den Klavierwettbewerb nach Uster zu holen, als er davon hörte, dass die Musikschule in Charkiw einen Partner im Ausland suchte.

Ehrismann und Irena Gulzarowa, eine Ustermer Klavierlehrerin mit usbekischen Wurzeln, haben hierfür eigens einen Verein gegründet, «Jugend beflügelt». Sie haben Sponsoren angeschrieben, sie bemühten sich darum, den Teilnehmern eine professionelle Ausstattung zur Verfügung zu stellen. Die Klaviere in den Übungsräumen des Gymnasiums wurden auf Vordermann gebracht, der Flügel auf der Bühne wurde aus Japan eingeflogen. Der Hersteller gehört ebenfalls zu den Geldgebern des Wettbewerbs. Die Firma stellt das Instrument gratis zur Verfügung und hat auch gleich einen eigenen Stimmer entsandt.

Auch sonst kann sich die Konzert-Infrastruktur in der Aula in Uster sehen lassen. Fünf Kameras halten die Auftritte der jungen Pianisten fest: von vorne, von der Seite, von oben. Die Stücke werden live gestreamt. Auf der Website des Wettbewerbs kann man sich die Beiträge der vergangenen Tage noch einmal ansehen.

Lieber Konzert als Schule

Laut Ehrismann haben über hundert Schülerinnen und Lehrer mitgearbeitet an der Veranstaltung. Zu tun gibt es genug. Moderation auf der Bühne, ein hauseigenes Medienteam, Licht- und Tontechnik im Saal, Infostände auf den Gängen, Betreuung der weitgereisten Teilnehmer und ihrer Familien vor Ort, Unterbringung in Gastfamilien: Für all diese Aufgaben rekrutierte die Kantonsschule freiwillige Helfer aus den eigenen Reihen. Und: Neben einer professionellen Jury mit Experten aus mehreren Ländern gibt es auch eine lokale Schülerjury.

«Wir sollen vor allem darauf achten, was uns berührt, was für einen Eindruck die Teilnehmer auf uns machen auf der Bühne», sagt einer der jugendlichen Preisrichter.

«Es ist eine extrem coole Erfahrung – mal etwas anderes als Schule», sagt Aline Zehnder.

Normalerweise besucht die 17-Jährige die fünfte Klasse. Doch am Mittwochvormittag ist sie für die Aufnahmeleitung in der Aula verantwortlich: Von den Lehrern, die ganz hinten Technik und Kameras überwachen, bekommt sie ganz vorne per Funk das Signal, wann genau sie die beiden Moderatorinnen auf die Bühne schicken soll, damit diese den nächsten Teilnehmer ankündigen können.

«Ich bekomme einen tollen Einblick, wie Organisation, Technik und Kommunikation funktionieren», sagt sie. «Das muss alles ineinandergreifen.» Und, klar: Sie ist vom Unterricht dispensiert für die Zeit. «Das ist auch noch lääss.»

Und die Musik? Die junge Frau weiss nicht so recht, was sie antworten soll, obwohl sie selber Klavier und Gitarre spielt.

«Eine alte Seele in einem jungen Körper»

Das Publikum indes bekommt einiges geboten an diesem Tag. Zum Beispiel von Oleksandr Fediurko, einem Talent aus Kiew, das seit Kriegsbeginn mit seiner Mutter und seinem Bruder in Graz lebt und an der dortigen Kunstuniversität einen Lehrgang für Hochbegabte besucht. Der 13-Jährige trägt einen schwarzen Anzug, ein schwarzes Hemd, glänzende schwarze Lackschuhe. Er schreitet wie ein reifer junger Mann nach vorne, setzt sich kerzengerade auf den Stuhl, konzentriert sich, wischt die Hände ab mit einem Taschentuch.

Dann legt er los: Beethoven, Chopin, Kossenko, Ravel. Oleksandr geht richtig mit am Flügel. Er beugt sich weit vor, richtet sich auf und beugt sich wieder vor. Fast so, als wolle er genau hinsehen, was sich unter den Tasten verstecke, gerade bei feinen, leisen Passagen – ohne verkrampft zu wirken, im Gegensatz zur Chinesin vor ihm.

Er hingegen scheint alles um ihn herum zu vergessen: eine starke Persönlichkeit mit einer beeindruckenden Präsenz auf der Bühne. Das bestätigt auch Irena Gulzarowa. Die Klavierlehrerin ist Teil der Jury an dem Wettbewerb. Sie sagt über ihn: «Eine alte Seele in einem jungen Körper – beeindruckend.»

Oleksandr ist ebenfalls zufrieden. «Ich habe gespielt, was ich kann.» Nervös sei er nur ganz zu Beginn gewesen. Und ja, natürlich wäre es schlimm für ihn, wenn er den Sprung in die Endrunde der besten sechs seiner Kategorie nicht schaffen würde. «Musik ist mein Leben.» Er könne nicht sein ohne.

Es klingt, als habe Oleksandr schon seit Jahren mit Medien zu tun und wisse ganz genau, was Journalisten gerne hören. Er hat auch kein Problem damit, als das Gespräch auf dem Gang kurz politisch wird. Er sagt: «Ich spiele vor allem für mich – aber auch ein bisschen für die Menschen in den zerbombten Städten der Ukraine.» Aber nein, Wiktor Kossenko, einen ukrainischen Komponisten, habe er nicht aus politischen Gründen gewählt. «Ich hätte auch Rachmaninow spielen können. Warum sollte man russische Komponisten, die vor langer Zeit gelebt haben, boykottieren?»

Unpolitisch und doch politisch

Patrick Ehrismann sagt: «Der Wettbewerb sollte unpolitisch sein – er ist es natürlich nicht.» Theoretisch dürfen auch Pianisten aus Russland teilnehmen – vorausgesetzt, sie sind einverstanden mit einem Statement der Europäischen Union der Jugendmusikwettbewerbe. Und in dieser Erklärung der Dachorganisation des Klavierwettbewerbs wird der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine klipp und klar verurteilt. Wörtlich heisst es in dem Statement: «Die Europäische Union der Jugendmusikwettbewerbe unterstützt die Ukraine.»

Also keine Russen in Uster. Sie liefen womöglich Gefahr, ins Visier von Putins Schergen zu geraten.

Aber das kann Oleksandr Fediurko und den anderen Finalisten von «Charkiw trifft Zürich» egal sein. Am Freitag und Samstag haben sie einen ganz grossen Auftritt: in einem Konzertsaal der Zürcher Hochschule der Künste an der Pfingstweidstrasse in Zürich – für ein gemeinsames Klavierkonzert mit dem Camerata-Orchester aus Kiew.

Ebenfalls mit dabei: Anke Chen, die Chinesin, die fast vom Stuhl gefallen wäre. Sie durfte ihre Stücke noch einmal wiederholen. Im zweiten Versuch hat sie es ebenfalls in den Final geschafft.

Für weitere Informationen: kharkivmeetszurich.ch

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