Mittwoch, Oktober 2

Die Geschichte einer wahnwitzigen Ermittlung.

Der Abend ist mild auf Madeira. Es ist der 7. Juli 2021, zwanzig Grad, ein paar Wolken, von Norden her weht eine leichte Brise. Michal Kozek steigt kurz nach 19 Uhr aus dem Taxi, das ihn nach Porto Moniz gebracht hat. Von hier aus, im äussersten Norden der Insel, will er nach Calheta im Süden rennen.

20 Kilometer über Stock und Stein. Es ist eine harte Route, doch der 35-Jährige ist gut in Form. Erst eine Woche zuvor hat er dies mit Freunden einer Ultramarathon-Gruppe in Grindelwald unter Beweis gestellt.

Madeira ist eine Vulkaninsel. Die Klippen fallen senkrecht in den Atlantik. Im Landesinnern ragen mächtige Gebirgszüge in die Höhe. Die Vegetation ist üppig und oft undurchdringlich, es gibt Felsen und versteckte Höhlen. Das Wetter kann derart schnell umschlagen, dass selbst Einheimische überrascht werden können.

Kozek kennt die Strecke nicht, die er sich an dem Abend vorgenommen hat. Am Tag zuvor ist er mit seiner Familie aus Zürich auf die Insel gereist. Seine Frau und die beiden Kinder warten im Hotel auf ihn. Er will bis ein Uhr nachts zurück sein. Dann beginnt auf Madeira die Ausgangssperre. Im Sommer 2021 gilt diese aufgrund der Corona-Pandemie noch immer.

Aber die Familie wird ihn nicht wiedersehen. Seit jenem Abend vor drei Jahren ist Michal Kozek verschollen.

Drei Jahre später sitzt sein jüngerer Bruder in Zürich vor einem Espresso und geht konzentriert seine Notizen durch. Christopher Kozek ist ein feingliedriger Mann mit zerzausten Locken, Typ Kreativer. Seit drei Jahren sucht er nach seinem verschollenen Bruder. Er sagt: «Ich muss wissen, was passiert ist. Ich schulde meinem Bruder, dass ich nicht aufgebe. Er hätte das Gleiche für mich getan.»

Am Morgen des 8. Juli 2021 meldet sich die Frau von Michal bei Christopher Kozek. Sie könne Michal nicht erreichen, er sei von seiner Tour nicht zurückgekehrt. Sie habe die Polizei eingeschaltet.

Christopher informiert die Botschaft seines Heimatlandes – die Kozeks stammen aus Polen –, dann steigt er in Kloten ins nächste Flugzeug nach Madeira. Seither ist sein Leben ein anderes.

Warum geht jemand ein solches Risiko ein?

Als die Einsatzkräfte ins Hinterland von Madeira ausrücken, ist dort der Boden noch nass. Es ist ein Indiz dafür, dass das Wetter in den Bergen gedreht hatte. Für die Helfer steht fest, dass sich Michal Kozek verirrt haben muss.

In Porto Moniz wird er von einer Überwachungskamera gefilmt. Es sind die letzten Bilder von ihm. Sie zeigen, wie er nach Süden in Richtung Berge rennt.

Als er losrennt, trägt Michal eine Garmin-Uhr, aber die Daten werden nicht aufgezeichnet. Offenbar ist sie nicht mit dem Internet verbunden. Auch ein Smartphone hat er bei sich. Das letzte Signal stammt von 20 Uhr 30.

Aufgezeichnet wird es von einem Sendemast beim Pico da Urze im Landesinnern. Der Berg liegt 35 Kilometer südöstlich von Michals Startpunkt in Porto Moniz. Die Positionsbestimmung kann aber täuschen. In unwegsamen Gegenden kann sich der Radius solcher Mobilfunkzellen auf über zehn Kilometer ausweiten.

Für die Rettungskräfte beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Noch während der Anreise verhandelt Christopher Kozek mit den Einsatzkräften. Dem Mann vom Zivilschutz geht er mit seinen Anrufen derart auf die Nerven, dass dieser ihn irgendwann freiwillig alle paar Stunden über den neusten Stand informiert. «Ich war wie ein Roboter», sagt Kozek.

Kaum ist er vor Ort, fährt er auf eigene Faust nach Porto Moniz. Er schliesst sich einem Trupp Soldaten an. Auch Polizei und Zivilschutz suchen fieberhaft. Dutzende Einsatzkräfte durchkämmen das Gelände, darunter auch eine Hundestaffel. Ein Helikopter mit Wärmebildkamera fliegt die Insel ab. Drei Tage geht das so. Am vierten Tag werden die ersten Einsatzkräfte abgezogen. So will es das Gesetz. Michal bleibt verschwunden.

Die Armee macht noch zwei Wochen weiter, dann bekommen auch die Soldaten neue Befehle. Christopher reist nach Zürich zurück. Aber er schwört sich, wiederzukommen.

Seit dem Verschwinden seines Bruders stellt sich Christopher die immer gleichen, quälenden Fragen: Warum ging sein Bruder ein solches Risiko ein? Wieso rennt er abends allein durch unbekanntes Terrain? Kozek lächelt etwas gequält. «Natürlich, die sind alle etwas verrückt, diese Ultramarathon-Leute», sagt er.

Aber sein Bruder ist ein geübter Ausdauersportler. Im Juni 2021 ist er den Swiss Canyon Trail im Neuenburger Jura gelaufen. 111 Kilometer, 5500 Höhenmeter hinauf, gleich viele Meter herunter. Michal Kozek braucht dafür 19 Stunden, 26 Minuten und 11 Sekunden. Sein Ergebnis findet sich noch immer online. «Er war es gewohnt, auch in der Nacht zu rennen», sagt der Bruder. Auf Madeira habe er eine Stirnlampe getragen, neuste Technologie: «Das Ding leuchtet 80 Stunden.»

Der Bruder riskiert bei der Suche sein Leben

Michal Kozeks Leben hatte hoffnungsvoll angefangen. Noch in der Ausbildung zum Ingenieur lernt er seine spätere Frau kennen. 2014 wird ihm an einer Messe in Polen ein Job in der Schweiz angeboten. Er nimmt an und wandert zusammen mit seiner Frau aus.

2019 holt Michal seinen jüngeren Bruder nach Zürich. Die Brüder sind einander sehr eng verbunden: «Michal ist mein bester Freund», sagt Christopher. Sie wollen in der Nähe wohnen. Zürich biete berufliche Möglichkeiten und ein anderes Lebensgefühl als Polen, erzählt Christopher.

In Zürich kommen Michals Kinder zur Welt. Die Alpen werden zu seiner Leidenschaft. Michal arbeitet als Ingenieur bei der Gebäudeversicherung des Kantons Zürich. Sein Spezialgebiet: Brände in Hochhäusern. «Es gehörte zu seinem Beruf, Risiken abzuschätzen und zu minimieren», sagt Christopher Kozek.

Michael Hilti ist ein Freund aus der Ultramarathon-Szene. Er sagt: «Michal war kein Draufgänger.» Trailrunning sei zudem kein Risikosport: «Wir halten uns vom Alpinismus fern.» Er glaubt, dass Michal Kozek abgestürzt ist: «Ich habe mich, wenn auch schweren Herzens, damit abgefunden, dass er tot ist.»

Nach dem Horror von Madeira reisen Michals Frau und die Kinder zurück nach Zürich. Schnell wird klar, dass sie wieder in die Heimat nach Polen zurückkehren werden. Nur Christopher bleibt in der Schweiz.

Von Zürich aus plant er die Suchaktionen, die fortan sein Leben bestimmen. Er sagt: «Michal wäre nie einfach so gegangen, er war auch nicht depressiv.» Deshalb müsse er wissen, was tatsächlich geschehen sei. «Nur so finde ich Frieden.»

Zehnmal ist er bereits auf die Insel gereist. Mehrere Wochen im Jahr verbringt er dort. Er klettert allein in Felsspalten, seilt sich über Klippen ab, läuft die Strecke, die sein Bruder damals nahm, zum hundertsten Mal ab, geht jeder neuen Spur nach.

Einmal verfehlt ihn ein herunterstürzender Fels um Zentimeter, ein andermal muss er wegen Erschöpfung ins Spital eingeliefert werden. An schlechten Tagen sagt er: «Ich bin nicht dumm, ich weiss, dass drei Jahre vergangen sind. Aber auch die Leiche zu finden, wäre eine Erlösung für mich.»

Die Zeit seit dem 7. Juli 2021 teilt sich ein in schlechte und sehr schlechte Phasen. Inzwischen hat er all seine Ersparnisse aufgebraucht. Er hat einen Kredit aufgenommen und mehrere Kreditkarten voll belastet. Insgesamt habe ihn die Suche 200 000 Franken gekostet, sagt er.

Er streitet mit seinen Eltern und der Frau seines Bruders, die wollen, dass er endlich abschliesse mit der Geschichte. Und er riskiert bei der Suche sein Leben.

Doch an einem guten Tag hofft er noch immer, sein Bruder sei irgendwo auf der Insel. Vielleicht orientierungslos nach einem Gedächtnisverlust, aber am Leben. Er sagt: «Die Chancen, dass Michal ein neues Leben begonnen hat, liegen bei einem Prozent.»

Christopher Kozek (mit Helm) klettert allein in Felsspalten, seilt sich über Klippen ab und läuft die Strecke, die sein Bruder damals nahm, zum hundertsten Mal ab. Er geht jeder Spur nach.

Auf Madeira verschwinden immer wieder Touristen

Zwei Monate nach Michals Verschwinden findet eine polnische Suchmannschaft, die von den Eltern organisiert worden war, einen Wanderstock. Es ist die gleiche Marke, die Michal benutzt hat.

Es sind Strohhalme, an die sich die Familie klammert. Wie die Zeugin, die Michal am 7. Juli auf einem Gipfel bei Porto Moniz gesehen haben will. Er habe sehr müde, ja krank ausgesehen, sagt sie Christopher. Der kommt ins Grübeln. Tatsächlich ist Michal zwei Wochen zuvor gegen Corona geimpft worden. Hat ihn die Impfung womöglich geschwächt?

Auch andere Gerüchte schiessen ins Kraut. Vielleicht ist Michal Opfer eines Verbrechens geworden. Die Blumeninsel hat auch eine dunkle Seite. «Auf Madeira kursiert jede Art von Drogen», sagt Christopher Kozek. Bei seinen Suchaktionen habe er mehrmals beobachtet, wie Schnellboote von der offenen See her eine der kleinen Buchten ansteuerten. Er vermutet dahinter Drogenschmuggler.

Aber es bleiben Gerüchte. «Michal hatte ausser der Garmin-Uhr und seinem iPhone keine Wertsachen bei sich», sagt Christopher Kozek. Auch er glaubt an einen Unfall. Er ist überzeugt, dass sein Bruder irgendwo im Gelände abgestürzt ist. Irgendwo im Hinterland von Madeira.

Michal Kozek ist nicht der einzige Tourist, der auf Madeira verschollen ist. Im Dezember 2020 verliert sich von einem jungen Deutschen jede Spur. Im September 2021 verschwindet ein junger Franzose. Im Dezember 2022 ein 54-jähriger Brite. Im März 2024 ein französisches Paar in seinen Fünfzigern.

Manchmal werden Leichen gefunden, im Falle des jungen Franzosen dauerte das fast zwei Jahre, im Falle des französischen Paares knapp einen Monat.

Seit drei Jahren sucht Christopher Kozek auf Madeira nach seinem verschollenen Bruder. Das Gebiet ist riesig und oftmals unwegsam.

«Neunzig Prozent der Wege sollten gesperrt werden», sagt Christopher Kozek. Es würden einfach zu viele Anfänger losmarschieren. Anders als in den Alpen seien die Wege auf Madeira nur schlecht gekennzeichnet.

Die vielen Vermissten sind der Grund, warum für ihn die Suche längst zu etwas Grösserem geworden ist. Er sagt: «Ich suche mittlerweile für die vielen anderen. Wenn ich Michal nicht mehr helfen kann, dann vielleicht jemandem sonst.»

Längst hat er unter den Inselbewohnern Freunde gefunden. Soldaten und Polizisten grüssen ihn. «Es sind gute Leute.» Im Gegenzug spendet er den lokalen Kräften Geld und Ausrüstung. Wenn er abreist, überlässt er ihnen jeweils seine ganze Ausrüstung.

Darum sammelt Christopher Kozek auch diesen Sommer wieder. Seine Liste ist lang: Eine Drohne. Ein 200-Meter-Seil. Karabiner. Helm. Kamera. Geld für Mietauto, Sprit und Essen. Denn im September will er nochmals gehen. Er sagt: «Es ist wohl das letzte Mal.»

Die Insel lässt ihn nicht los.

Exit mobile version