Freitag, Oktober 4

Doris Wirths gelungener Familienroman ist für den Deutschen Buchpreis nominiert. Mit klarer Sprache beschreibt die Autorin Vergangenheit und Gegenwart im Präsens. Denn nichts ist wirklich vergangen, alles hat Gewicht.

Wann ist eine Familie normal? Welchem Bild muss sie entsprechen, um dieses Etikett für sich beanspruchen zu dürfen? Und warum ist man womöglich geneigt, seine eigene Familie im Vergleich zu anderen besonders kritisch zu sehen? Florence Rüegg, Mitglied einer vierköpfigen Familie, stellt sich diese Fragen gleich zu Beginn von Doris Wirths Debütroman «Findet mich».

So sicher sie immer war, dass die Ihrigen nie «aus dem Rahmen» fallen würden, so eindeutig muss sie irgendwann feststellen, dass die Rüeggs – ihre Eltern Erwin und Maria, ihr Bruder Lukas – mit einem konventionellen Begriff von Normalität nicht zu fassen sind.

Zerstörung des familiären Lebenswerks

Doris Wirth, die im Kanton Zürich aufwuchs und nun in Berlin lebt, hat einen sich über mehrere Jahrzehnte erstreckenden Familienroman geschrieben. Die Geschichte unterscheidet sich auf wohltuende Weise von dem, was etwa die amerikanische Literatur dazu serienweise an gut konstruierten, aber oft vorhersehbaren Plots beisteuert.

Der Text setzt damit ein, dass das sorgsame Gefüge der Rüeggs, die irgendwo im weiteren Zürcher Umland leben, völlig durcheinandergerät. Erwin, ein Mann von Ende fünfzig, setzt sich in seinen kupferfarbenen Toyota, will alles hinter sich lassen und droht sein familiäres Lebenswerk zu zerstören.

Erwin fährt ziellos durch die Schweiz, übernachtet im Freien oder auf einem Campingplatz, streift durch das Dickicht der Wälder und will sein bisheriges Leben vergessen. Wenn er auf Menschen trifft, dann sollen es solche sein, die sein altes Ich nicht kennen, und mitunter hat er Glück und darf in solchen Runden untertauchen: «Keiner fragt, was er arbeitet, was er vorhat, woher er kommt, wer er ist. Nur, wie er heisst. Und ob er noch ein Bier will.»

Warum er all das tut, wird nicht endgültig beantwortet. Sicher ist, dass sich Erwin bei seinem Ausbruch gewissermassen eine Hintertür offen lässt, eine Rückkehrmöglichkeit. Bei seinem Roadtrip hinterlässt er folglich kleine Hinweise, die es erlauben würden, ihn zu finden. So gibt er gleich zu Anfang in einer Kneipe ein übermässiges Trinkgeld, in der Hoffnung, dass die Kellnerin sich an ihn erinnern möge – falls man sich auf die Suche nach ihm machte. Es ist das Spiel seines Lebens: «Findet mich.»

Die Autorin wechselt die Erzählperspektiven und gibt allen vier Familienmitgliedern das Wort. Rückblenden reichen weit zurück, in Erwins und Marias Kindheit, in die Zeit, als die beiden sich verliebten und als die Geburt ihrer Kinder den Alltag veränderte. Das Gegenwartsgeschehen, Erwins Irrfahrt, und die Erzählungen aus der Vergangenheit sind im Präsens gehalten – ein Kniff, der die Wirkkraft dessen, was lange zurückliegt, eindrucksvoll zur Geltung kommen lässt. Nichts ist wirklich vergangen; alles hat Gewicht.

Das Gefühl, als Vater und beruflich zu versagen

Doris Wirth baut einfache, schlanke Sätze, um das psychische Geflecht der Familie zu durchleuchten. Die Autorin weiss ihre erzählerischen Mittel sehr genau einzusetzen. Ausschweifende Nebensätze spielen keine Rolle, stattdessen vertraut sie auf die sprachliche Kraft des Unmissverständlichen: «Dröhnend fährt die Stimme auf Lukas und Florence nieder, seine Augen zürnen über den Brillenrand. Ein Gottesurteil.»

Doris Wirth erkundet auf diese Weise behutsam, was Erwin dazu gebracht hat, die Bande zu seinem bisherigen Leben zu durchschneiden. Nach und nach erfährt man, wie er unter seinem dominanten Vater litt, wie sich sein Übermut und Witz zusehends verliert, dass er zu cholerischen Anfällen neigt, in sexuellen Allmachtsphantasien schwelgt, sich mit seinen Kindern überwirft, sich als schlechter Vater und beruflicher Versager fühlt.

Wie es zu seiner offensichtlich psychischen Erkrankung kam, die seine Familie früher als er selbst erkennt, das bleibt eine Leerstelle, die Doris Wirth klugerweise nicht zu füllen beabsichtigt. Ihr Roman zeigt keine Kausalitäten; für die «Wechselbäder» dieser Familie gibt es keine eindeutigen Erklärungen.

Am Ende gelangt Erwin nach Liechtenstein und beendet seine Flucht, ohne sich dem polizeilichen Zugriff zu widersetzen: «Er wird nicht geschnappt. Er lässt sich fangen.» Im Rahmen einer «fürsorgerischen Freiheitsentziehung» (seit 2013 spricht man in der Schweiz von «fürsorgerischer Unterbringung») wird er gegen seinen Willen in eine Klinik verbracht. Was danach aus ihm und den Rüeggs wird, zeigen die Schlusskapitel dieses beeindruckend subtilen Romans. «Findet mich» wurde für den Deutschen Buchpreis 2024 nominiert, aus sehr guten Gründen.

Doris Wirth: Findet mich. Roman. Geparden-Verlag, Zürich 2024. 327 S., Fr. 35.90.

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