Samstag, September 28

Der albanische Regierungschef hat mit seiner Ankündigung an der Uno-Generalversammlung alle überrascht. Was hat es mit dem Projekt eines souveränen Staates für den Bektaschi-Orden auf sich?

Der albanische Regierungschef Edi Rama weiss sich in Szene zu setzen. Auch zu offiziellen Terminen trägt der Politiker gerne T-Shirts und weisse Turnschuhe. Eine beeindruckende Erscheinung ist der breitschultrige und über zwei Meter grosse Hüne sowieso.

Noch unkonventioneller als sein Auftreten sind einige seiner Ideen. Als Bürgermeister von Tirana entwickelte der ehemalige Künstler vor mehr als zwei Jahrzehnten ein Farbkonzept für die Hauptstadt und liess dafür ganze Strassenzüge neu streichen. Die internationale Aufmerksamkeit war dem Jungpolitiker gewiss.

Zentrum für Toleranz und ein friedliches Miteinander

Ein mindestens so überraschendes Projekt hat Rama am Wochenende an der Uno-Generalversammlung angekündigt. In Tirana soll auf dem Gelände des Bektaschi-Ordens ein souveräner Zwergstaat entstehen. Als eine Art muslimischer Vatikan werde dieser zu einem Zentrum für Toleranz und friedliches Zusammenleben, erklärte der albanische Regierungschef bei seiner Rede.

Die Ankündigung wurde medial begleitet. Am selben Tag erschien in der «New York Times» eine Reportage aus Albanien, in der sich Rama und das Oberhaupt des Ordens, der sogenannte Dedebaba, zum Projekt äussern. Ein Staat in der Tradition des gemässigten Islam auf dem Balkan sende eine Botschaft gegen die Stigmatisierung der Muslime aus, wird der Regierungschef zitiert.

Mystischer Orden mit anatolischen Wurzeln

Die Bektaschi sind ein sufistischer Orden mit starken alewitischen Einflüssen, dessen Ursprung in Anatolien liegt. Ihre Kultgebäude, die nur entfernt an eine Moschee erinnern, werden Tekke genannt. Der Sufismus ist eine Strömung im Islam, bei der die unmittelbare Verbindung der Gläubigen zu Gott eine zentrale Rolle spielt.

Diese Verbindung wird teilweise durch Askese, aber auch durch tranceartige Tänze oder Rauschmittel hergestellt. Im Westen am bekanntesten sind die tanzenden Derwische des Mevlevi-Ordens, einer anderen sufistischen Gruppierung.

Sufis prägen auch die eklektischen Traditionen in einigen gemischtreligiösen Weltgegenden, etwa in Südasien, wo teilweise dieselben Schreine von Hindus und Muslimen verehrt werden. Dies trägt zur verbreiteten, wenn auch etwas oberflächlichen Charakterisierung der Sufis als Vertreter eines toleranteren, weniger strengen Islam bei.

Für die alewitisch geprägten Bektaschi trifft das aber durchaus zu. Gebote des orthodoxen Islam wie das fünfmalige Beten am Tag spielen bei den Anhängern des Ordens nur eine untergeordnete Rolle. Die Frauen verschleiern sich nicht, Alkoholkonsum ist erlaubt.

Verbannung aus der Türkei

Auch der Bezug zu Albanien ist gegeben. Ausserhalb der anatolischen Stammlande hatten die Bektaschi zu osmanischer Zeit vor allem auf dem Balkan viele Anhänger. Der Orden spielte eine wichtige Rolle bei der Verbreitung des Islam in der Region.

In Albanien bekannten sich zum Ende des 19. Jahrhunderts bis zu 15 Prozent der Bevölkerung zum Bektaschi-Orden. Als Atatürk nach der Gründung der türkischen Republik alle Sufi-Orden im Land verbat, verlegten die Bektaschi ihr spirituelles Zentrum aus Anatolien nach Tirana.

Im Sozialismus gerieten allerdings alle Glaubensgemeinschaften im Land stark unter Druck. Der Diktator Enver Hoxha erklärte 1967 Albanien zum ersten atheistischen Staat der Welt und verbat jegliche religiöse Aktivität. Die meisten Tekke wurden daraufhin zerstört. Erst 1990 wurde das Zentrum des Ordens wieder eröffnet. Das Gelände dieses Zentrums soll laut Edi Ramas Plänen das Territorium des neuen Zwergstaates bilden.

Geringe Rolle der Religion in Albanien

In Albanien wurde die Ankündigung des Regierungschefs ungläubig aufgenommen, aber auch mit Spott oder Empörung. Die Vertretung der Sunniten, der grössten Glaubensgemeinschaft im Land, verurteilte den Plan. Der religiösen Toleranz im Land sei das Vorhaben nicht dienlich, sondern das Gegenteil sei der Fall, hiess es in einer Erklärung.

Das konfessionell gemischte Albanien versteht sich als religionspolitisch neutraler Staat. Auch unter der Bevölkerung spielen Glaube und konfessionelle Zugehörigkeit keine grosse Rolle. Mischehen sind an der Tagesordnung. Edi Rama etwa bezeichnet sich als nichtpraktizierenden Katholiken, seine Frau ist Muslimin, die Kinder aus erster Ehe orthodox. Eine so prominente Hervorhebung der Bektaschi, zu denen sich heute nur gegen 3 Prozent der Bevölkerung bekennen, wirft unter diesen Umständen tatsächlich Fragen auf.

Kritisiert wird aber auch, wie das Projekt lanciert wurde. «Rama präsentierte die Idee auf der internationalen Bühne, ohne dass zuvor im Land eine Debatte stattgefunden hätte», sagt Afrim Krasniqi von der Denkfabrik AIPS in Tirana. Rama vermittle den Eindruck, der Staat gehöre ihm und er könne tun und lassen, was er wolle. Auch von anderen aufsehenerregenden Vorhaben wie dem Migrations-Abkommen mit Italien oder der Vernichtung syrischer Chemie-Waffen in Albanien hatte die lokalen Bevölkerung aus der internationalen Presse erfahren.

Spekulationen über Hintergründe

Der Politologe Ilir Kalemaj von der Universität in Tirana bezeichnet Ramas Vorgehen als internationales Politikmarketing. «Grenzstreitigkeiten gibt es überall. Doch Albanien will freiwillig einen Teil seines Territoriums abgeben. So kommt man auch als kleiner Staat in die ‹New York Times›.»

Sollte dies tatsächlich die Strategie sein, ist sie durchaus erfolgreich. Mit seinen überraschenden Vorstössen bringt der albanische Regierungschef sich und sein Land immer wieder in die Schlagzeilen. Über die rechtsstaatlichen Missstände, den autokratischen Führungsstil oder die weitverbreitete Korruption spricht man deutlich seltener als etwa im Nachbarland Serbien – trotz vergleichbaren Problemen.

Daneben kursieren noch weitere Spekulationen über die Hintergründe von Ramas Ankündigung: Will er den ohnehin schon boomenden Tourismus im Land weiter ankurbeln? Soll der Zwergstaat zu einem Steuerparadies werden und Finanzinvestoren anlocken? Oder stecken am Ende die USA als enger Verbündeter und Israel dahinter, die damit den durch den Gaza-Krieg verursachten Flurschaden in der muslimischen Welt aufzufangen suchen?

Verfassungsrechtliche Hürden

«Wir wissen es nicht», sagt der Politologe Kalemaj. «Fest steht aber, dass unter der gegebenen Verfassung das Projekt gar nicht realisierbar ist.» Das Grundgesetz lasse Vorstösse, welche die territoriale Unversehrtheit des Landes berührten, nicht zu. Sollte Ramas Sozialistische Partei bei den Wahlen im kommenden Jahr eine Zweidrittelmehrheit erringen, könnte sie allerdings die Verfassung ändern. Doch auch dann müsste der neue Staat ja auch noch international anerkannt werden.

Einige Beobachter erwarten angesichts dieser Hürden, dass das Projekt ohne konkrete Folgen versande. «Ich bin mir da nicht so sicher», sagt der Politologe Kalemaj. «Rama hat mit seinem Auftritt viel investiert.» Man darf auf die nächste Überraschung aus Tirana gespannt bleiben.

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