Jean-Daniel Ruch trat 2023 kurz nach seiner Ernennung zurück, womöglich störte seine Nato-Skepsis. Nun hat er mit einem FDP-Politiker einen Verein gegründet – den eine moldauische Ex-Journalistin ersann.
Es war eine prominente Runde, die Mitte Dezember am Gründungsanlass des Geneva Centre for Neutrality über die Rolle von Neutralität in einer polarisierten Welt diskutierte: die Ex-Bundesratspräsidentin Ruth Dreifuss, der Ex-Botschafter Paul Widmer sowie der Ex-Botschafter Österreichs Thomas Mayr-Harting, der bis Ende 2024 OSZE-Beauftragter für den Konflikt um die moldauische Region Transnistrien war.
Einen Tag zuvor hatte das neue Zentrum – dessen Name an etablierte Organisationen wie das Geneva Centre for Security Policy erinnert – seine Statuten aufgestellt. Erklärtes Ziel des Vereins ist es, angesichts des «Risikos einer Eskalation zu regionalen oder gar Weltkriegen» die «Unparteilichkeit» zu fördern und den betroffenen Parteien einen «sicheren Raum» zu bieten, in dem diese ihre Differenzen «in einer neutralen und konstruktiven Atmosphäre beilegen können».
Weiter will der Verein die Schweizer Debatte über die Neutralität laut eigener Aussage nicht der SVP überlassen. Über die entsprechende Initiative entscheiden die Stimmbürger voraussichtlich 2026. Und schliesslich verweist der Verein darauf, dass der Bundesrat mit seinem Handeln seit 2022 die «Wahrnehmung der Schweizer Neutralität beeinflusst» habe. Gemeint ist offenbar, dass die Schweiz seit der Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland nach dem Angriff gegen die gesamte Ukraine nicht mehr überall auf der Welt als neutral angesehen wird.
Unterzeichnet haben die Statuten zwei Personen: erstens der Vereinspräsident Jean-Daniel Ruch, der lange Schweizer Botschafter war. Er erlangte grössere Bekanntheit, als Verteidigungsministerin Viola Amherd ihn im September 2023 als Staatssekretär für Sicherheitspolitik ernannte – und er einen Monat später, nach Presseberichten über angebliche Erpressbarkeit im Zuge von Frauengeschichten, zurücktrat und seine diplomatische Karriere beendete. «Ich war in internen Sitzungen wohl manchen Leuten zu Nato-skeptisch», sagt Ruch.
Die Ideengeberin aus der Moldau will nicht reden
Zweitens unterschrieb die Statuten die Sekretärin des Geneva Centre for Neutrality, die in Genf wohnende, aus der Moldau stammende Beraterin und ehemalige Journalistin Ecaterina Cojuhari. Sie spielt bei der Gründung des Vereins eine zentrale, teilweise unklare Rolle: Die Idee für den Neutralitätsverein geht auf sie zurück, wie Jean-Daniel Ruch und sein Vizepräsident, der ehemalige Genfer FDP-Chef Nicolas Ramseier, übereinstimmend sagen. Cojuhari war es auch, die die beiden Männer einander vorstellte.
Doch einen Tag nach der ersten regulären Mitgliederversammlung am vergangenen Mittwoch in Genf hat Cojuhari sich laut Ruch und Ramseier zurückgezogen. «Wir wollen zuallererst eine Schweizer Plattform sein», sagt Ramseier, der kurz nach Beginn des Ukraine-Kriegs nach eigenen Angaben zu seiner russischen Frau nach Moskau zog und 2024 nach Genf zurückkehrte. «Wir wollten nicht, dass es nach ausländischer Einflussnahme aussieht.» Cojuhari bleibe einfaches Mitglied und erledige vor allem administrative Aufgaben.
Die ehemalige Journalistin hat kürzlich in einem Gastbeitrag für die Westschweizer Tageszeitung «Le Temps» strikte Einhaltung der verfassungsmässig vorgegebenen Neutralität der Moldau gefordert. Andernfalls drohe dem kleinen Land dasselbe Schicksal wie der Ukraine. Darin klingt das russische Narrativ an, dass Kiew den russischen Überfall letztlich selber provoziert habe.
Vergleiche zwischen der Schweiz und der Moldau
Cojuhari hat zusammen mit Co-Autoren Bücher zum Thema Neutralität und Souveränität verfasst und dabei auch Vergleiche zwischen der schweizerischen und der moldauischen Neutralität gezogen. Im Kontext der ehemaligen Sowjetrepublik ist die Forderung nach strikter Neutralität gleichbedeutend mit der Absage an eine weitere Annäherung an den Westen, wie sie Präsidentin Maia Sandu und ihre prowestliche Regierung entschlossen vorantreiben.
Auch Russland operiert in seiner Kritik an Sandu oftmals mit dem Neutralitätsbegriff. Moskau übt grossen Druck aus, um die Moldau in seiner Einflusszone zu halten. In der abtrünnigen Region Transnistrien befinden sich mehrere russische Militärbasen.
Ecaterina Cojuhari will auf Anfrage nicht über den Verein kommunizieren und dies Ruch und Ramseier überlassen. Wieweit sie sich wirklich zurückgezogen hat, bleibt unklar – laut den Statuten bleiben Gründungsmitglieder wie sie lebenslang Vorstandsmitglied. Noch verworrener wird die Angelegenheit dadurch, dass gemäss Ruch und Ramseier das vierte Gründungsmitglied, ebenfalls eine Moldauerin, diese Woche den Verein verlassen hat, wegen unterschiedlicher Vorstellungen zum Vereinszweck.
Jean-Daniel Ruch bezeichnet die holprige Vereinsgründung als normal. «Das ist wie bei der Erschaffung der Erde», sagt der Bernjurassier am Telefon: «Es beginnt mit Magma, und es verfestigt sich nach und nach.» Zusammen mit Nicolas Ramseier wolle er sich nun zuerst auf die Schweiz konzentrieren und einen Rahmen für eine «konstruktive, unparteiische Debatte über die Neutralität» schaffen.
Ruch kritisiert die SVP – und schreibt in der «Weltwoche»
Die SVP habe neben der Neutralität bereits Themen wie Europa, Migration und Schweizer Identität besetzt. «Das erscheint mir falsch», sagt Ruch. «Wir können der SVP nicht das Monopol dieser Debatte überlassen.» Ruch schreibt eine Kolumne in der «Weltwoche» des Ex-SVP-Nationalrats Roger Köppel und hat bei ihm auch die deutsche Ausgabe seiner Memoiren veröffentlicht.
Der Ex-Diplomat bezeichnet sich als unabhängigen Freigeist, der im Programm aller Parteien Gutes finden kann. Früher habe er oft die Freisinnigen gewählt, aber die heutige FDP habe ihre Identität verloren. Er vermisse vor allem den «humanistischen Flügel», den der einstige Ständerat Dick Marty verkörpert habe.
Ruch, Ramseier und Cojuhari haben nun einiges vor: Sie wollen ein internationales Beratergremium einrichten, im April eine Veranstaltung zum Finanzplatz Schweiz und zur Neutralität organisieren, Kontakte in die Deutschschweiz knüpfen, später womöglich einen «Klub der neutralen Länder» gründen. Es könnte spannend werden.