Sonntag, Dezember 1

Die Häufung von Krisen erschüttern die Reichen in ihrem Selbstverständnis. Der Soziologe Thomas Druyen stellt vor allem in den deutschsprachigen Ländern eine tiefe Verunsicherung fest.

Sie sind Professor für Vermögenspsychologie. Wie geht es den Vermögenden?

Wenn Sie mutige, charismatische, immer nach vorn blickende und ständig das Neue suchende Vermögende meinen: Denen geht es gut. Der Wandel und die künstliche Intelligenz sind Wellen, auf denen diese Superreichen mit Freude surfen. Insgesamt aber gibt es unter Vermögenden überwiegend Angst vor Kontrollverlust, Katastrophen, Unüberschaubarkeit und politischen Eskalationen. Gerade in Europa ist die Stimmung wie das Wetter – düster!

Gibt es kulturelle Unterschiede – leiden die Reichen in Europa stärker unter Verlustängsten als jene in Asien oder den USA?

Die Angst vor Verlust ist psychologisch bedingt und ein globales Phänomen. Den Abstieg möchten alle verhindern. Dennoch unterscheiden sich die Mentalitäten, je nach Kultur, Religion, Generation und Reichtumsdauer. Im westlichen Europa mit einer langanhaltenden Friedens- und Wohlstandsentwicklung ist die Angst gross, und sie wächst stetig. Man möchte auf keinen Fall aus der lieb gewonnenen Gewohnheit des Besitzens fallen. In Asien ist der Wunsch nach Reichtum allumfassend. Im Verhältnis zu Europa ist die Zahl der Vermögenden im letzten Jahrzehnt überproportional gestiegen. Das motiviert, das treibt an, und auch der Verlust wird zwar als tragisch gesehen, danach wieder anzugreifen, zählt aber umso mehr. In unseren deutschsprachigen Ländern sind die Negativsicht, die Bedenkenträgerei und die Abstiegsangst enorm. Es ist nicht falsch, in vielen Teilen dieser Klientel von Ohnmacht zu sprechen. Demgegenüber ist in Amerika der Grössenwahn gesellschaftsfähig und damit auch die Veränderungsenergie.

Am G-20-Gipfel in Rio de Janeiro wurde über eine Reichensteuer diskutiert. Was löst dies bei Vermögenden aus?

Ankündigungen sind noch lange keine Realität, insofern wird dies mehrheitlich nicht als Angriff gewertet. Aber die Option einer Reichensteuer wird auch von vielen Vermögenden nicht grundsätzlich abgelehnt. Es soll nur sichergestellt werden, dass die unternehmerischen Aktivitäten inklusive innovativer Investitionen nicht erschwert werden. Dieses Thema ist ideologisch stark aufgeladen. Hier stossen unterschiedliche Mindsets und Einstellungen aufeinander. Ein Kompromiss scheint unerreichbar, da die diversen Seiten auf ihrem Recht beharren. Es muss einmal objektiv geklärt werden, wie die gesamtgesellschaftliche Wirkung von Reichtum und den damit verbundenen Leistungen einzuschätzen ist.

Leiden vermögende Personen vermehrt unter Paranoia und Verfolgungsängsten?

Dies ist charakter- und kulturabhängig. In unseren Ländern gibt es eine zunehmende Furcht vor Übergriffen, vor Katastrophen und Weltkriegen. Von Paranoia kann man hier nur in Ausnahmefällen sprechen. Aber die gefühlte und wahrnehmbare Beschleunigung von Krisen, die Überforderungen und die ständigen Veränderungen sind ein Angriff auf unsere Psyche und unser Gehirn. Wer das einfach geschehen lässt, leidet zunehmend, zuweilen dramatisch. Aber dies wäre bei den meisten Vermögenden nicht notwendig, da eine spezifisch psychologische Auseinandersetzung und Überwindung möglich ist. Dazu bedarf es zukunftspsychologischer Beschäftigung oder psychotherapeutischer Beratung, es gibt viele Optionen. Alles laufen zu lassen und zu erleiden, ist die denkbar schlechteste.

Viele Reiche werden aktiv und organisieren sich. In Klubs wie Tiger 21 finden sie zusammen und tauschen sich aus. Was steckt dahinter?

Verbindungen, Gesellschaften und Foren, die ihre Interessen vertreten, hat es schon immer gegeben. Es gibt kaum eine gesellschaftliche Gruppe weltweit, die dies nicht tut und versucht. Je grösser der Hebel, umso grösser die Wirkung. Im Umfeld des Superreichtums wurden viele Jahre die Bilderberg-Konferenzen als ein informelles Geheimtreffen der Eliten betrachtet. Die jetzigen Angebote werte ich aber nicht als revolutionäre Organisation des Reichtums. Dafür sind die Superreichen weltweit zu unterschiedlich. In vielen dieser Netzwerke geht es vordringlich ums Geschäft. Wesentlich grössere Auswirkungen in dieser Hinsicht haben Milliardäre unterschiedlichster Prägung, die in die Politik gehen und sogar Staatsoberhäupter werden. Gegenwärtig zeigt sich dies an der zu erwartenden Herrschaft von Trump und seinen handverlesenen Buddies. Was steckt dahinter: der Griff zur Macht und ihre Erhaltung.

Nimmt das gesellschaftliche Engagement der Reichen ab?

Nicht wirklich. Ohne Zweifel gibt es überall superreiche Leute, denen die Gesellschaft oder der Rest der Welt egal sind. Oder jene, die sich nur für materielle Anhäufung und Macht interessieren. Nach dreissig Jahren Vermögensforschung bin ich dennoch sicher, dass dies bei weitem nicht die Mehrheit ist. Diesen Menschen ist klar, dass eine Gemeinschaft niemals funktionieren kann, wenn alle nur einer kleinen Klientel dienen. Insofern sehe ich weiterhin ein grosses Engagement der meisten Reichen. Einige sehen schon in einer korrekten Entrichtung ihrer Steuern ihre Pflichterfüllung. Aber viele stiften, fördern und sind gemeinnützig unterwegs. Jenen ist das Bewusstsein der Teilhabe ebenso wenig fremd wie die Einsicht, dass Ungleichheit und Ungerechtigkeit Hass und Unfrieden erzeugen.

Reiche üben eine enorme Faszination auf die Gesellschaft aus. Woher kommt diese Obsession?

In Zeiten grosser Herausforderungen und Belastungen suchen die Menschen nach Ankern. Reichtum bedeutet scheinbar die Gewähr für Sicherheit und Versorgung. Danach streben alle. Gleichzeitig gibt es unzählige Menschen, die zwar von Reichtum träumen, aber blosse Abgesichertheit anstreben.

Die Geschichten über Reiche sind immer dieselben: Superjachten, Privatjets, extravagante Hobbys. Dennoch ist beim Publikum keine Ermüdung feststellbar.

Das ist wie Netflix. Die Welt der vermeintlich Schönen und Reichen fasziniert die meisten Menschen weltweit, und das seit Jahrtausenden. Klischees reichen absolut aus und bedienen genüsslich die Neugierde, den Vorwitz und die Schadenfreude. Hier sind die Medien meist leider nur Dienst- und Serviceleister. Tatsächlich über die funktionale Bedeutung von Erfolg, Superreichtum und Unternehmungsbereitschaft zu sprechen, könnte ein wichtiger Beitrag sein, um über den grossen Mythos der Schere zwischen Arm und Reich Aufklärung zu betreiben.

Sportler oder Showstars werden kaum je kritisiert wegen ihres Reichtums, andere wohlhabende Personen hingegen schon. Woher stammen diese Unterschiede in der Bewertung?

Jede Kultur hat die Prominenten, die sie verdient. Psychologisch wirken sie wie Lametta am Tannenbaum. Man kann sich ungefragt und eigenmächtig mit berühmten Showmenschen vernetzen und ihnen folgen. Diese einseitige Partizipation eröffnet viele Möglichkeiten der Kompensation, der Empathievergabe und der Zugehörigkeit. Das sind gewichtige psychologische Kräfte und Wirkungen, die die Starversessenheit erläutern. Dennoch erscheinen mir in diesem Prominenzumfeld viele zwei- oder dreistellige Millionenverdienste absurd. Auch hier ist eine Leistungs- und Gegenleistungsdefinition ratsam, um zukünftigen Generationen eine vernünftige Wertorientierung zu geben.

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