Sonntag, Oktober 20

Gleich sieben Kandidaten bewerben sich um den Präsidentenposten beim Internationalen Olympischen Komitee. Einen einwandfreien Ruf hat keiner von ihnen.

Kampfabstimmungen sind in den höchsten Gremien des Sports zur Seltenheit geworden. Die Mächtigen wie der Fifa-Präsident Gianni Infantino lassen sich per Applaus im Amt bestätigen, und Olympische Spiele sowie Fussball-Weltmeisterschaften werden in Hinterzimmern vergeben.

Umso mehr überrascht auf den ersten Blick, was in diesen Tagen beim Internationalen Olympischen Komitee (IOK) passiert. Gleich sechs Kandidaten sowie eine Kandidatin bewerben sich um den Präsidentenposten. Im März wählen die 111 IOK-Mitglieder ihr neues Oberhaupt. Sie vergeben den höchsten Posten des Weltsports passenderweise in Griechenland, nicht nur Geburtsstätte der Spiele, sondern auch der Demokratie.

Vielleicht kürt das Gremium die siegreiche Person sogar im Heiligen Hain von Olympia, inmitten jener Altäre, auf denen im Laufe der Jahrhunderte auch schon echten Göttern Opfer dargebracht wurden. Ähnlich pompös wie bei einer Papstwahl, also gerade angemessen.

Die Sache mit den sieben Kandidaturen ist jedoch trügerisch. Ein echter Wahlkampf findet nicht statt. Das IOK verhindert das mit einem achtseitigen Regelwerk. Interviews dürfen die Anwärter zwar geben, aber direkte Vergleiche mit den Rivalen sind ihnen darin untersagt. Auch öffentliche Auftritte sind verboten. Wer eine der vielen Vorschriften missachtet, kann zu einer öffentlichen Bitte um Entschuldigung genötigt werden.

Aber trotz der per Dekret erzwungenen Intransparenz kursieren über die sieben Aspiranten unvorteilhafte Geschichten. Sie handeln von Freundschaftsdiensten und Kungeleien, rüpelhaftem Verhalten und Profitgier.

Selbst der Brite Sebastian Coe bleibt nicht verschont, obwohl es ihm als Präsident des Leichtathletik-Weltverbandes gelungen ist, eine in die Jahre gekommene Sportart neu zu beleben. Er hat zudem rigoros auf Herausforderungen wie Russlands Staatsdoping reagiert. Vergleichbare Leistungen als Funktionäre können seine Gegner kaum vorweisen. Coe war ausserdem selbst Spitzensportler und wurde als Läufer zweimal Olympiasieger.

Aber ein kleiner Filz-Vorwurf darf auch in Coes Vita nicht fehlen. Als er noch Vizepräsident der Leichtathleten war, erhielt die amerikanische Stadt Eugene ohne das sonst übliche Bieterverfahren den Zuschlag, Weltmeisterschaften auszurichten. Eugene ist der Hauptsitz des Schuhkonzerns Nike, welcher Coe jahrzehntelang alimentierte, erst als Athlet, später als Markenbotschafter. Es tauchten E-Mails auf, die den Eindruck erweckten, dass er Eugenes Zuschlag aktiv unterstützte. Erst nach öffentlichem Druck kappte Coe seine Verbindungen zu Nike.

Hartnäckig haften dem organisierten Sport Vorurteile an. Entscheide beruhten stets auf Beziehungsgeflechten, heisst es. Sie würden in autokratischer Manier durchgesetzt. Und während sich die Chefs von IOK und Fifa gebärdeten wie satirisch überzeichnete Diktatoren-Imitate, sässen die wahrhaft Mächtigen in den Zentralen echter Diktaturen: in Russland, China oder neuerdings Saudiarabien. Der laufende Wettstreit um den IOK-Präsidentenposten wirkt wie ein Plot, um jedes negative Zerrbild zu bestätigen.

Überschwängliches Lob für China

Es kandidiert beispielsweise Juan Antonio Samaranch. Er ist bis jetzt vor allem als Sohn bekannt. Sein gleichnamiger Vater leitete das IOK von 1980 bis 2021. Samaranch senior verherrlichte den Diktator Francisco Franco und sah sich nach seiner Amtszeit mit Vorwürfen konfrontiert, für Russlands Geheimdienst KGB gearbeitet zu haben. Samaranch junior fällt nun mit seiner Nähe zu China auf.

Im Juli 2012 gründete er in Peking unter Anwesenheit einheimischer Politiker eine Stiftung. Sie verfolgt laut Samaranchs damaliger Mitteilung das Ziel, den «sportlichen und kulturellen Austausch zwischen China und Spanien» zu fördern, alles zu Ehren des Vaters: «Er schätzte die Liebe und Freundschaft, welche er in China stets erfuhr.» Auch die von Samaranch gegründete Investmentbank GBS Finance, die er weiterhin leitet, ist in China aktiv.

Ungeachtet möglicher Interessenkonflikte durfte der Spanier im Namen des IOK Pekings Olympiabewerbung für 2022 bewerten. Sein Urteil fiel überschwänglich aus. Obwohl Naturschutzgebiete platt gewalzt wurden, um unter massivem Einsatz von Kunstschnee Wintersport zu ermöglichen, frohlockte Samaranch junior, die Spiele seien «extrem grün», sie zählten zu den «allergrünsten».

Der organisierte Sport ist ein archaisches Phänomen. Obwohl der Kalte Krieg seit 1990 Geschichte ist, passierte es bis in die jüngste Vergangenheit, dass sich die Vertreter einstiger Blockstaaten untereinander wahlentscheidend absprachen. In der Parallelwelt des Funktionärswesens vollziehen sich politische Umwälzungen bisweilen mit gravierender Verspätung.

Der russische Oligarch verhalf zum Sieg

Wer wüsste das besser als David Lappartient. Der Franzose wurde 2017 zur allgemeinen Überraschung mit überwältigender Mehrheit zum Präsidenten des Radsport-Weltverbandes UCI gewählt. Anschliessend lief der russische Oligarch Igor Makarow durchs Kongressgebäude von Bergen und erklärte grinsend: «Das ist auch mein Sieg.» Der Verdacht liegt nahe, dass sich Lappartient später revanchierte. Makarow besass in Turkmenistan zeitweise ein Monopol im Erdgassektor. Der dortige Diktator Gurbanguly Berdimuhamedow erhielt von Lappartient die höchste Auszeichnung, welche die UCI zu vergeben hat. Wofür genau, blieb offen.

In letzter Zeit rückte Lappartient der kommenden Grossmacht des Sports näher. Er leitete eine Kommission, welche einen Coup im Sinne Saudiarabiens einfädelte. Im Juni 2024 gab das IOK bekannt, olympische E-Sports-Spiele einführen zu wollen. Einen Monat später waren bereits Tatsachen geschaffen: Der Gastgeber heisst in den nächsten zwölf Jahren Saudiarabien.

Das Königreich bemüht sich mit milliardenschwerem Aufwand um Grossanlässe. Die Offensive könnte dem einzigen Präsidentschaftskandidaten zugutekommen, der die Nähe zu Monarchen nicht künstlich suchen muss: Er ist selbst ein Prinz. Faisal bin al-Hussein ist ein Bruder des jordanischen Königs Abdallah II.

Saudiarabien und Jordanien verstehen sich, jüngst schlossen die Staaten mehrere strategische Abkommen. Die politische Grosswetterlage ist für den Kandidaten Faisal bin al-Hussein durchaus vorteilhaft. Dennoch ist nicht ganz klar, was ihn zum IOK-Präsidenten befähigen würde. Sein eigenes sportliches Vermächtnis besteht unter anderem darin, 1978 einen Wrestling-Kampf gewonnen zu haben.

100 000 Dollar im Aktenkoffer entgegengenommen

Nicht nur für den jordanischen Prinzen dürfte es schwierig werden gegen Kirsty Coventry aus Simbabwe. Sie ist neben Coe die einzige ehemalige Spitzensportlerin im Kandidatenrennen, als Schwimmerin gewann sie 2004 und 2008 Olympiagold. Simbabwes damaliger Regierungschef Robert Mugabe liess Coventry zur Belohnung 100 000 Dollar in einem Aktenkoffer übergeben. Es kamen Vorwürfe auf, sie habe von ihm zudem eine enteignete Farm als Geschenk akzeptiert, wobei sie ein Gericht in Harare davon später entlastete.

Heute ist Coventry in Simbabwe Sportministerin. Sie gehört also zu jener Regierung, der ein Wahlbeobachter der Europäischen Union bescheinigte, an den Wahlen 2023 durch Akte der Gewalt sowie Einschüchterungen ein Klima der Angst geschaffen zu haben. Ohnehin mag überraschen, dass eine aktive Politikerin an die Spitze einer Organisation aufsteigen will, in der immer noch das Credo vertreten wird, der Sport dürfe nicht politisiert werden. Doch im IOK ist vieles möglich, ihre Chancen scheinen intakt.

Zumal Coventry den Aufbau nützlicher Netzwerke beherrscht. Als im Juli der Inder Anant Ambani heiratete, dessen Vater Mukesh Ambani zu den reichsten Menschen der Welt gehört, war sie dabei. Zu den Gästen gehörten auch der China-Kenner Samaranch, der Fifa-Präsident Infantino sowie Amin Nasser, der Chef des saudischen Ölkonzerns Aramco.

Mutige oder visionäre Aussagen konsequent vermeiden

Obwohl sie zeitweise die Athletenkommission leitete, fiel Coventry bisher im IOK kaum mit mutigen oder visionären Aussagen auf. Doch gerade die Teflonhaftigkeit erhöht die Wahlaussichten – nicht zuletzt im Vergleich zu jenen des japanischen Mitbewerbers Morinari Watanabe. Der Präsident des Internationalen Turnerbundes löste nach den Olympischen Spielen von Paris Empörung aus, als er im Umgang mit dem umstrittenen Entscheid, der Amerikanerin Jordan Chiles die Bronzemedaille nachträglich abzuerkennen, Empathie vermissen liess. Watanabe instrumentalisierte den Vorfall für die eigene Agenda, technische Neuerungen durchzusetzen, was ihm übelgenommen wurde.

Die besten Karriereaussichten haben Funktionäre, wenn sie Positionierungen, die irgendjemanden verärgern könnten, konsequent vermeiden. Als wolle man sie zu ihrem Glück zwingen, werden die Entscheidungsträger zunehmend dazu gedrängt, nach aussen zu schweigen. Bereits 2017, als das IOK-Exekutivkomitee in Lausanne über Sanktionen gegen Russland beriet, ereilte die Anwesenden laut einem damaligen Teilnehmer die Aufforderung, ganztägig ihre Handys abzugeben.

Die Welt ist in den Zeiten von X, Tiktok und Instagram offener und transparenter geworden. Doch das IOK verschliesst sich immer mehr hinter den eigenen Mauern.

Es wäre vor diesem Hintergrund ein Treppenwitz, sollte ausgerechnet Johan Eliasch das Rennen um den Präsidentenposten für sich entscheiden. In seiner bisher erst dreijährigen Amtszeit als Präsident des Internationalen Skiverbandes FIS hat sich der schwedisch-britische Geschäftsmann und Milliardär in Alleingängen praktisch mit dem gesamten Skizirkus überworfen. Selbst sein zeitweise wichtigster Unterstützer, Peter Schröcksnadel aus Österreich, würde die Zeit gerne zurückdrehen. Eliasch sei «der Falsche für den Job», sagte er der «Süddeutschen Zeitung».

Im Versuch, Vermarktungsrechte zu zentralisieren, kassierte der FIS-Präsident in Deutschland vor wenigen Tagen eine juristische Niederlage. Es werde nicht die letzte bleiben, prophezeit die Ski-Legende Markus Wasmeier: «Alles, was er geplant hat, ist gescheitert. Alles, was er vorhat, wird scheitern.»

Eliasch als Präsident: Das wäre die radikalste Zäsur, welche dem IOK widerfahren könnte. So unwahrscheinlich die Wahl des Unternehmers ist, auf gewisse Weise wäre sie der Organisation zu wünschen.

Ein Artikel aus der «»

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