Es sind begehrte Medikamente zum Abnehmen, doch Mittel wie Ozempic und Wegovy schützen auch vor verschiedenen Krankheiten. Wer in Zukunft von ihnen profitieren wird.

Was haben Abnehmspritzen mit Hollywoodstars gemeinsam? Sie machen sich rarer, als es sich ihre Fans wünschen. Bei den Medikamenten namens Ozempic, Wegovy oder Mounjaro führt die grosse Nachfrage zu massiven Lieferengpässen – und der Hype könnte noch zunehmen. Denn in absehbarer Zeit wird es die Mittel auch als einfache Pille statt als Spritze geben. Zudem häufen sich Meldungen über positive Effekte auf Herz-Kreislauf-Beschwerden, Nierenprobleme und sogar Hirnerkrankungen wie Parkinson oder Sucht.

Sind die Mittel tatsächlich Allzweckwaffen gegen zahlreiche Leiden? Und wird sie deshalb bald ein Grossteil der Bevölkerung als Pille schlucken?

Die Mittel dämpfen Entzündungen in diversen Organen

Erst einmal ist klar: Die Wirkstoffe in all den erwähnten Spritzen funktionieren immer gleich. Sie imitieren die Wirkung körpereigener Hormone namens GLP-1. Daher heissen sie im Fachjargon GLP-1-Agonisten. Sie senken unter anderem den Blutzuckerspiegel und steigern das Sättigungsgefühl. Daher helfen die Abnehmspritzen sowohl Diabetikern als auch Übergewichtigen.

Wirksame Spritzen und Pillen

Wie viel Prozent ihres Gewichtes adipöse Menschen in klinischen Versuchen durchschnittlich verloren haben

Gewichtsabnahme in Prozent mit max. Dosis

Gewichtsabnahme in Prozent mit Placebo

Die jüngste Erfolgsnachricht haben Forscher Mitte Mai auf einem Kongress in Stockholm verkündet: Bei Patienten mit Diabetes Typ 2 und zugleich chronischer Nierenerkrankung besserte sich die Nierenfunktion durch einen GLP-1-Agonisten deutlich. Das Risiko, ein Nierenversagen zu erleiden und daran zu sterben, wurde um 24 Prozent gesenkt. Zudem sank das Risiko für Herz-Kreislauf-Komplikationen. Verwendet wurde in diesem Fall der Wirkstoff Semaglutid, enthalten zum Beispiel in den Ozempic- und Wegovy-Spritzen des dänischen Herstellers Novo Nordisk.

Schon in den Wochen zuvor zeigten Studien, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei übergewichtigen Patienten durch Ozempic und Co. gebessert werden. Das Risiko, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden, wurde um 20 Prozent gesenkt. Das Herz wurde insgesamt gestärkt, so dass die Patienten wieder längere Strecken laufen konnten.

Zugelassen für immer mehr Leiden

Mehrere Arzneimittelbehörden haben bereits reagiert. So können zum Beispiel in den USA, Deutschland oder in der Schweiz die Spritzen mittlerweile nicht nur Diabetikern und Fettleibigen verschrieben werden, sondern auch Patienten, die nur übergewichtig sind und zudem bereits eine Herz-Kreislauf- oder andere Begleiterkrankung von Übergewicht aufweisen. Manche Expertinnen und Experten plädieren dafür, dass Menschen mit einem Body-Mass-Index von über 27 und einer Herzerkrankung einen GLP-1-Agonisten bekommen sollten – auch wenn dies noch nicht in den Leitlinien erfasst ist.

Als Erklärung für diese positiven Nebenwirkungen der GLP-1-Agonisten galt lange, dass mit weniger Gewicht auch Herz oder Nieren weniger belastet sind. Doch mittlerweile sind die Fachleute überzeugt: Hinter den Verbesserungen steckt mehr.

Es zeichnet sich ab, dass diese Mittel Entzündungen dämpfen – und zwar in zahlreichen Organen. Sie schaffen es, dass im Körper die Produktion bestimmter Substanzen gedrosselt wird, die Entzündungen anheizen. Somit beruhigen sich auch übereifrige Immunzellen wieder.

Eine Ursache dafür ist die verringerte Masse an Fettgewebe. Denn volle Fettzellen stossen Entzündungsstimulatoren aus. Doch entleerte Fettzellen sind nicht der einzige Grund für die durch GLP-1-Agonisten verminderte Entzündung. Daten aus einer Studie mit Herzpatienten zeigen, dass deren Erkrankungen sich unabhängig vom verlorenen Gewicht besserten. Und: «In Tieren haben wir gesehen, dass bereits wenige Stunden nach der ersten Injektion Entzündungen gedämpft werden», sagt der Diabetologe Daniel Drucker von der University of Toronto.

Was die Substanzen im Gehirn bewirken

Die Experten vermuten, dass die Abnehmmittel auch in verschiedene Prozesse im Gehirn eingreifen. Entzündungsreaktionen würden auf Befehl von ganz oben heruntergefahren, ist Drucker überzeugt.

Diese Erkenntnisse brachten mehrere Forscher dazu, GLP-1-Agonisten auch gegen Entzündungen direkt im Gehirn auszuprobieren. In neuen Studien soll sich zeigen, ob diese Medikamente zum Beispiel gegen Parkinson oder Alzheimer wirksam sind.

Es wird keine Heilung erwartet, aber doch ein verlangsamtes Fortschreiten. Denn wenn wie bei den erwähnten Erkrankungen Nervenzellen zugrunde gehen, löst das auch immer kleine lokale Entzündungsherde aus.

Möglicherweise könnten die Medikamente im Gehirn aber auch noch etwas anderes bewirken. Patienten, die die Spritzen gegen Übergewicht oder Diabetes Typ 2 nehmen, berichten nämlich, dass sie weniger Verlangen nach jeglichem alkoholischen Getränk sowie Zigaretten hätten. Das hat Suchtforscher hellhörig gemacht.

«Es ist durchaus denkbar, dass GLP-1-Agonisten bei Therapien gegen Suchterkrankungen hilfreich sind», sagt Lorenzo Leggio, Suchtforscher vom National Institute on Drug Abuse in Maryland. «Denn wir wissen aus Tierstudien, dass Netzwerke von Nervenzellen, die auf GLP-1-Agonisten reagieren, mit denjenigen Nerven zusammenarbeiten, die auf Suchtmittel ansprechen.» Vielleicht dämpfen Ozempic und Co. also auch Suchtsymptome?

Noch ist allerdings unklar, ob die Medikamente die Entzugssymptome mindern oder ob sie auf das Belohnungssystem einwirken und so das Verlangen unterdrücken. Derzeit werden GLP-1-Agonisten in diversen Studien als Unterstützung der Therapie gegen Alkohol- oder auch Nikotinsucht erforscht.

Doch auch die Tests mit den Abnehmmitteln in Pillenform laufen auf Hochtouren. Am weitesten fortgeschritten ist das sogenannte «Oral Sema» von Novo Nordisk. Ein klinischer Versuch der letzten und entscheidenden Phase III zeigte, dass die tägliche Einnahme der Semaglutid-Tablette im Verlauf von 68 Wochen zu einer Gewichtsabnahme von durchschnittlich über 15 Prozent führte – das ist noch etwas mehr, als die bereits so erfolgreiche Wegovy-Spritze im selben Zeitraum erreicht.

«Oral Sema» könnte schon im nächsten Jahr auf den Markt kommen. Dem Geschäftsbericht des Herstellers ist zu entnehmen, dass die allerletzten Tests bald abgeschlossen sein dürften.

Der grösste Vorteil einer solchen Pille sei, dass damit mehr Patienten erreicht würden als bisher, erklärt der Endokrinologe Dimitris Papamargaritis von der University of Leicester. «Einerseits profitieren so auch Menschen, die eine Abneigung gegen Spritzen haben. Andererseits sind Allgemeinmediziner eher bereit, Tabletten zu verschreiben als Spritzen», sagt er.

Verschiedene Wirkstoffe gegen Übergewicht sind bereits zugelassen oder werden es bald sein. Mit Rybelsus hat Novo Nordisk sogar schon eine Pille mit Semaglutid auf dem Markt. Diese ist aber nur als Diabetesmedikament zugelassen und mit ihrer Dosis weit weniger effektiv zum Abnehmen als Semaglutid-Spritzen. Der Grund: Semaglutid ist ein kleines Protein, ein Peptid. Der Magen zersetzt einen Teil des Medikaments. Dadurch gelangt weniger davon in die Blutbahn als über eine Injektion.

Um die Aufnahme des Wirkstoffs zu erhöhen, ist Rybelsus wie nun auch «Oral Sema» mit Zusatzstoffen, sogenannten Absorptionsverstärkern, ausgestattet. Zudem ist eine strikte Einnahme der Semaglutid-Pillen nötig: Sie müssen täglich 30 Minuten vor dem Frühstück auf nüchternen Magen geschluckt werden. Damit «Oral Sema» schliesslich so effektiv wirkt wie eine Injektion, enthält eine einzelne Pille mehr als 20-mal mehr Wirkstoff als die höchstdosierte Wegovy-Spritze, nämlich 50 Milligramm.

Mit der nächsten Generation von Abnehmpillen werden diese Schwierigkeiten jedoch weitestgehend verschwinden. Denn bereits jetzt sind Tabletten in Entwicklung, die keine Peptide mehr als Wirkstoff enthalten, sondern wesentlich kleinere Moleküle, die in Magen und Darm nicht so einfach abgebaut werden.

Schon im letzten Sommer hat der amerikanische Pharmakonzern Eli Lilly die Daten der erfolgreichen Phase-II-Versuche zu seinem Wirkstoffkandidaten Orforglipron veröffentlicht. Laut den Angaben verloren die Probanden dank der täglichen Einnahme einer Tablette während 36 Wochen durchschnittlich 14,7 Prozent ihres Gewichts. Zum Ende des Versuchszeitraums war noch kein Plateau absehbar. Das heisst, die Gewichtsabnahme wäre danach wohl sogar noch weitergegangen. Doch das Entscheidende: Weil es sich bei Orforglipron um ein kleines Molekül und nicht um ein Peptid handelt, kommt es ohne Absorptionsverstärker aus und kann flexibel zu einer beliebigen Tageszeit eingenommen werden. Zudem ist die Dosis geringer.

Pille mit doppelter Wirkung

Auch Novo Nordisk hat ein kleines Molekül als Abnehmpille in der Pipeline. Zwar steckt der Wirkstoff namens Amycretin noch immer in der Phase I der klinischen Versuche, doch er hat eine besondere Eigenschaft: Er wirkt als dualer Agonist. Das heisst, er imitiert nicht bloss GLP-1, sondern noch ein weiteres Hormon, das die Sättigung steuert. Dadurch ist die Amycretin-Tablette während der ersten zwölf Wochen der Einnahme – so weit reichen die bisher veröffentlichten Daten – doppelt so potent wie Wegovy.

Bis Orforglipron- und Amycretin-Pillen auf dem Markt sind, wird es aber noch einige Jahre dauern. Bereits vorhanden ist dagegen eine Spritze mit einem kleinen Molekül als Wirkstoff, das ebenfalls als dualer Agonist funktioniert: das Medikament Mounjaro von Eli Lilly. In der EU, in England und in den USA ist das Mittel mit dem Wirkstoff Tirzepatid bereits als Abnehmmedikament zugelassen, in der Schweiz erst als Diabetesmedikament. Die Arzneimittelbehörde Swissmedic hat bestätigt, dass sie derzeit ein Gesuch für Mounjaro als Abnehmmittel prüft. Sie kann aber nicht sagen, wann die Zulassung erfolgt.

Experten rechnen damit, dass in den nächsten Jahren noch eine Handvoll der Abnehmpräparate auf den Markt kommen wird. Manche davon dürften zu Gewichtsverlusten von bis zu 25 Prozent führen. «Das alles ist schon eine ziemlich revolutionäre Entwicklung», sagt der Diabetologe und Adipositas-Spezialist Philipp Gerber vom Universitätsspital Zürich. «Neben den chirurgischen Massnahmen wie etwa der Magenverkleinerung stehen nun äusserst effektive Medikamente bereit, mit denen sich die Krankheit Adipositas wirklich therapieren lässt.» Auch sei ihr Sicherheitsprofil im Vergleich zu früheren Präparaten sehr gut.

Keine gravierenden Nebenwirkungen bekannt

Die häufigsten bisher bekannten Nebenwirkungen sind Völlegefühl, Bauchweh, Übelkeit oder Erbrechen. Damit haben die Patienten vor allem in den ersten Wochen zu kämpfen. Frühere Berichte über das Auftreten von suizidalen Gedanken haben sich dagegen nicht bestätigt.

Doch noch immer sind laut Gerber wichtige Fragen offen. Eine ist die Finanzierung der teuren Medikamente, die wohl lebenslang immer wieder eingenommen werden müssen, um ihre positiven Effekte zu erhalten. Bis jetzt zahlen die Krankenkassen in der Schweiz die Abnehmpräparate, die bis zu 190 Franken pro Monat kosten, nur während dreier Jahre. «Danach kann die Therapie nur weiterführen, wer sie aus der eigenen Tasche bezahlen kann», sagt Gerber. Immerhin ist zu erwarten, dass die Preise der Medikamente in den nächsten Jahren fallen werden, weil mehr Konkurrenten auf den Markt kommen, die neueren Wirkstoffe günstiger zu produzieren sind und weil nach zehn Jahren der Patentschutz ausläuft – für Semaglutid ist das zum Beispiel in Europa im Jahr 2031 der Fall.

Eine andere offene Frage ist, wie breit die Medikamente über die Therapie von Diabetes, Adipositas und Übergewicht hinaus eingesetzt werden könnten. Höchstwahrscheinlich werden die GLP-1-Agonisten in Pillenform die Spritzen ergänzen: Je nach Präferenz wird ein Patient einmal täglich eine Tablette schlucken oder sich einmal pro Woche den Wirkstoff selbst injizieren. Dank den Pillen werden somit auch Leute von den potenten Wirkstoffen profitieren, die das heute noch nicht können.

Ozempic und Co. sind keine Allzweckwaffen

Trotzdem werden die GLP-1-Agonisten damit keine Medikamente für jede und jeden. Denn auch wenn ihre zahlreichen positiven Nebenwirkungen beeindruckend klingen, so sind die Mittel keine Allzweckwaffen. Vielmehr gehen Experten davon aus, dass sie nur dann helfen, wenn Diabetes, Übergewicht oder andere Defekte die Stoffwechselprozesse im Körper durcheinandergebracht haben.

Nur wenn das GLP-Netzwerk gestört ist, können Begleiterkrankungen durch die Gabe von GLP-1-Agonisten kuriert oder wenigstens gemindert werden. Kein Experte empfiehlt die Spritzen daher für Normalgewichtige mit Herzproblemen. Und die Vielzahl der Wirkungen auf zahlreiche Organe spricht auch dagegen, die Abnehmpräparate nur zu nehmen, um kurz mal eben ein paar Kilos zu verlieren.

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