Bei einer 20-Prozent-Partei wie derzeit der AfD kann einzig der politische Wettbewerb die Wähler zum Umdenken bewegen. Ein langwieriges gerichtliches Prüfungsverfahren schafft dagegen Legenden.
Jahrzehntelang gehörte es in der Bundesrepublik zum guten, soll heissen: geschichtsbewusst-politischen Ton, bei jeder Krise umstandslos den Vergleich zu suchen und besorgt zu fragen: Wird Bonn, wird Berlin Weimar? Derzeit wird die Frage erneut gestellt. Politische «Brandmauern» gegen Koalitionen mit der AfD werden beschworen, sogar Kommunikationsverbote praktiziert, wie eben auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Nun ist sie zweitstärkste Partei in Deutschland geworden – vor den Sozialdemokraten und Grünen. Wird Berlin doch Weimar? Nein.
Die Schwarzen (CDU) und die Blauen (AfD) sind die Sieger des 23. Februar. Dank hoher Wahlbeteiligung hat die Jugend diesmal links gewählt und nicht grün. Koalitionen aus CDU/SPD und CDU/AfD sind rechnerisch möglich. Eine Regierung aus Union und SPD gilt als wahrscheinlich, aber eine Partei, die «historische» Verluste erlitten hat, wurde vom Wähler abgewählt, und das nicht, um erneut zu regieren.
Wenn Abgeordnete den Wählerwillen nicht respektieren, dürfen sie sich über Politikverdrossenheit nicht wundern. Ein Zusammengehen von Union und AfD wird als Bedrohung für die Demokratie gesehen, was sie nicht ist. Übersehen wird, dass eine 20-Prozent-Partei auch parlamentarisch nicht mehr ignoriert werden kann. Wer langfristig die fortbestehende innere Teilung Deutschlands überwinden will, sollte die Wähler im Osten gerade auch über parlamentarische Koalitionen zu integrieren suchen.
Man kann die AfD beim Regieren kontrollieren
Die Rechtspopulisten müssen sich am demokratischen Wettbewerb beteiligen, in Koalitionen bewähren beziehungsweise scheitern. Sie werden sich dabei programmatisch anpassen, vielleicht spalten, in Teilen radikalisieren und gegebenenfalls auch einem Verbot nicht entgehen. Wer die AfD eine «in Teilen verfassungsfeindliche Partei» nennt, suggeriert ein baldiges und aussichtsreiches Verfahren. Politisch angemessen wäre es, sie unaufgeregt rechts- oder deutschnational zu nennen und beim Regieren zu kontrollieren. Sollten sich die AfDler blamieren, scheitern sie an sich selbst. Der Wettbewerb überzeugt die Wähler, ein langwieriges gerichtliches Prüfungsverfahren schafft Legenden.
In der Weimarer Republik ging die grössere Gefahr von Koalitionsbrüchen oder -verweigerungen der Parteien aus. An vorentscheidenden Brüchen war nicht nur die konservative, in Teilen rechtsnationale Deutsche Volkspartei (DVP) beteiligt, sondern auch die sozialdemokratische Republikgründerin. Im Krisenjahr 1923, mit Besetzung, Ruhrkampf, Inflation, Hungerunruhen und Putschen, stand Weimar erstmals am Abgrund, erneut dann 1930.
Was im politischen Konfliktfall zählt
Koalitionsunwillig beziehungsweise unfähig waren beide Parteien, die DVP wie die SPD. Der rechte Flügel der Stresemann-Partei und der linke Flügel der SPD, die ehemaligen Unabhängigen, die erst im September 1922 wieder zur Mutterpartei zurückgekehrt waren, lagen weit auseinander.
Koalitionen zu bilden und Kompromisse zu schliessen, hatten die Parteien im Kaiserreich nicht lernen können. In Bismarcks konstitutioneller Monarchie waren sie vom Regieren ausgeschlossen. Die hoch polarisierte Weimarer Republik erlaubte den Parteien nicht, dieses Versäumnis nachzuholen.
Wichtig bleibt allerdings die Erkenntnis, dass im politischen Konfliktfall Integrität, Geschick und Erfahrung der Personen mit Führungsaufgaben stets von grosser Bedeutung sind. Das gilt gerade für eine im Bundestag relativ neue, programmatisch, finanziell und personell undurchsichtige AfD. Manche ihrer Fraktionsmitglieder geraten immer wieder ins Zwielicht.
Durch hohe Sympathiewerte, politische Kompetenz und souveränes Auftreten in freier Rede sind die Spitzenkandidaten dieser Partei bisher nur einmal aufgefallen. Das war die Gründerzeit mit unter anderem Frauke Petry, Konrad Adam, Hans-Olaf Henkel, Bernd Lucke. Diese verliessen die Partei mit der Erkenntnis: «Unser Baby ist missraten.» Mit Alexander Gauland ist einer ihrer Väter immer noch dabei, ein verbitterter, hessischer ehemaliger CDU-Mann. Er sitzt inzwischen erneut im Bundestag und ist durch seinen hässlichen «Vogelschiss»-Vergleich des Holocaust als einer der Sprecher des Neo-Nazi-Flügels seiner Partei zu zweifelhafter Prominenz gekommen.
Verantwortung im Land der Täter
Der Streit um Gaulands Vergleich hat die Öffentlichkeit erneut an die politisch-moralische Verpflichtung aller deutschen Staatsbürger erinnert, dauerhaft geschichtsbewusst zu leben. Der Auschwitz-Überlebende Jean Améry schrieb in den 1960er Jahren, dass das Reich Hitlers «eines Tages Geschichte schlechthin sein» werde und die Schulkinder «weniger von den Selektionsrampen» erfahren würden als «von einem erstaunlichen Triumph über allgemeine Arbeitslosigkeit». Alles werde «untergehen in einem summarischen ‹Jahrhundert der Barbarei›».
Längst ist in der international gelobten deutschen Erinnerungskultur das Opfergedenken in den Vordergrund gerückt. Die Auseinandersetzung mit den Tätern und der industriell organisierten Ermordung von Millionen Menschen jüdischer und slawischer Abstammung ist dahinter zurückgeblieben. Unbedenklich ist eine solche Verschiebung nicht.
Nicht unerwartet sind nun 152 AfD-Mitglieder in den Bundestag eingezogen. Das geschichtliche Bewusstsein nicht weniger von ihnen, so viel darf man unterstellen, dürfte sich eher in einer Grauzone bewegen zwischen Verharmlosung und Bewunderung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Früher oder später werden die AfD-Abgeordneten dem Bundestag Anlass geben, über diese Fragen auch wieder im Parlament zu sprechen.
Die deutsch-jüdische Philosophin Hannah Arendt wandte sich in den 1940er Jahren aus Amerika an ihren deutschen Lehrer Karl Jaspers: Für eine Unschuld der Opfer, die «jenseits der Tugend» liege, schrieb sie, und eine «Schuld jenseits des Verbrechens» habe sie keine juristischen und politischen Begriffe. Haben wir sie heute?
Peter Reichel war bis 2007 Professor für Historische Grundlagen der Politik an der Universität Hamburg. Letzte Veröffentlichung «Rettung der Republik?» (2022) im Carl-Hanser-Verlag.