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Alle zwölf Jahre versammeln sich Millionen Hindu-Pilger in Nordindien für ein rituelles Bad am Zusammenfluss von Ganges und Yamuna. Auch eine tödliche Massenpanik hat den Strom der Gläubigen nicht abreissen lassen.
Vor der Brücke über den Yamuna bildet sich der erste Stau. Rikschas, Jeeps und Taxis mit Pilgern vom Zug aus Mumbai sammeln sich an einer Strassensperre. Eine Weile noch suchen sich Motorräder einen Weg durch die Menge, dann geht nichts mehr. In der Woche zuvor waren Pilger auf dem Rückweg von der Maha Kumbh Mela dreissig Stunden im Stau stecken geblieben. Zum wichtigsten Tag des Hindu-Festes am 29. Januar hatten sich laut der Regierung knapp zwanzig Millionen Pilger am Zusammenfluss des Ganges und des Yamuna versammelt, um bei einem rituellen Bad ihre Sünden abzuwaschen.
Die Maha Kumbh Mela findet nur alle zwölf Jahre statt. Es ist nicht nur das wichtigste Hindu-Festival Indiens, sondern auch die grösste religiöse Versammlung der Welt. Dieses Jahr, da das «grosse Fest des Kruges» erstmals unter der Ägide der Hindu-nationalistischen Regierung von Premierminister Narendra Modi organisiert wird, ist es grösser denn je zuvor. Allein in den ersten drei Wochen bis Anfang Februar sollen dafür mehr als 370 Millionen Pilger in die Stadt Prayagraj im nordindischen Teilstaat Uttar Pradesh gekommen sein.
Doch an diesem Februarmorgen ist der grösste Andrang vorbei, und der Stau auf dem Weg vom Bahnhof löst sich nach zehn Minuten auf. Auf der alten, stählernen Brücke über den Yamuna geht es langsam weiter bis zum Festgelände. Die letzten drei Kilometer müssen die Pilger zu Fuss zurücklegen. Zwar sind an diesem Morgen weit weniger Gläubige als zum grossen Badetag Ende Januar unterwegs, doch sind es noch immer Hunderttausende, die zum Ufer des Flusses ziehen.
Die Regierung lässt sich die Gelegenheit nicht entgehen, ihre Erfolge in Szene zu setzen. Überall entlang der Strasse prangen riesige Plakate mit Premierminister Modi, auf denen die Leistung seiner Partei für den Ausbau der Infrastruktur beworben wird. Auch das Bild von Modis Parteifreund Yogi Adityanath ist omnipräsent. Als Chefminister des Teilstaats Uttar Pradesh ist er für die Organisation des Festes zuständig. Erst am Ufer des Ganges ist Schluss mit der politischen Werbung.
Am Ufer des Ganges erstreckt sich eine riesige Zeltstadt
In der Luft liegt der Geruch von Garküchen, Holzfeuern und den Dutzenden Toiletten am Wegesrand. Über die Lautsprecher erschallen die Namen von Pilgern, die im Gedränge von ihren Familien getrennt worden sind. Während Polizisten zu Pferd pfeifend und schimpfend die Massen zu lenken versuchen, bahnen sich immer wieder Jeeps mit Politikern und anderen VIP laut hupend einen Weg durch die Massen. Gehüllt in Jacken und Schals ziehen die Pilger jedoch unbeirrt in der morgendlichen Kälte zum Flussufer hinunter.
Gesäumt ist die breite Allee von Strassenhändlern, die Tee, Snacks und Zuckerrohrsaft verkaufen. Die meisten Pilger kommen nur für wenige Stunden, doch einige bleiben auch Tage, Wochen oder gar die gesamte Dauer des Festes vom 13. Januar bis zum 26. Februar an den Ufern des Ganges. Entlang der Strasse gibt es daher auch Bettdecken, Kochutensilien und andere Haushaltsgegenstände zu kaufen, welche die Pilger für ihren Aufenthalt benötigen.
Am Ende der Allee erreichen die Pilger eine Anhöhe, von der sich ein weiter Blick auf den Sangam bietet, wo gemäss dem Glauben der Hindus der Ganges, der Yamuna und der mystische Saraswati zusammenfliessen. Während des Monsuns reicht das Wasser bis an die Mauern der alten Mogulfestung heran, die sich auf der strategischen Anhöhe erhebt. Doch während der Trockenzeit hinterlässt der Ganges riesige Sandbänke, auf denen nun die Maha Kumbh Mela stattfindet.
Die Sadhus sind mit der Organisation zufrieden
So weit das Auge reicht, stehen Zelte, Hallen und Tempel, dazwischen provisorische Strassen und Reihen von Strommasten, die sich im Dunst aus Staub und dem Rauch der Holzfeuer verlieren. In Abständen ragen Mobilfunkmasten auf, um den Netzempfang sicherzustellen. Über den Ganges hat die Regierung für die Dauer der Maha Kumbh Mela Pontonbrücken gelegt, auf denen die Pilgermassen von einer Seite zur anderen gelangen können. Die Strömung ist stark, doch in dieser Jahreszeit ist der Fluss nur wenige hundert Meter breit.
Am anderen Ufer haben die Akharas entlang einer breiten, staubigen Strasse ihre Lager aufgeschlagen. Akhara werden im Hinduismus die Orden der Sadhus genannt – jener kriegerischen Asketen, die ihr Leben Gott und der Verteidigung des Glaubens verschrieben haben. Insgesamt gibt es dreizehn Akharas, die zumeist den Göttern Shiva und Vishnu gewidmet sind. Jeder Orden hat sein eigenes Zeltlager, in dem während der Maha Kumbh Mela Tausende Sadhus leben, essen und meditieren.
«Wir sind sehr zufrieden mit der Organisation durch die Regierung», sagt Swami Maheshwar Das bei einem Gespräch im Lager seiner Akhara. Der in leuchtend rote Roben gehüllte Chef der Bada-Udaseen-Akhara erzählt, früher hätten die Sadhus alles selbst vorbereiten müssen. Nun habe die Regierung für 45 Tage eine neue Stadt geschaffen mit allem, was es in einer normalen Stadt gebe: Trinkwasser, Elektrizität und Sanitäranlagen, aber auch Bank- und Postfilialen.
Das Fest bietet Tausenden Menschen Arbeit
Neben den Sadhus können auch einfache Pilger in dem Camp schlafen. In einem grossen Zelt wird mittags für alle kostenlos Essen ausgegeben. Zuerst sind aber die Sadhus dran. In langen Reihen sitzen die knorrigen Männer am Boden und essen mit den Händen von Metalltellern. Es gibt Reis, Dal, Gemüse und zum Abschluss eine Süssigkeit. Die Sadhus haben wirre Bärte, lange Dreadlocks und einen wilden Blick, manche sind fast nackt und als Erinnerung an ihre Vergänglichkeit mit Asche beschmiert.
Die Akharas, betont der Sadhu-Führer Maheshwar Das, verlangten kein Geld für Essen und Unterkunft und lebten allein von den Spenden der Gläubigen. Wie jedes religiöse Fest der Welt habe die Maha Kumbh Mela jedoch auch einen kommerziellen Aspekt. So biete das knapp siebenwöchige Fest Tausenden einfachen Arbeitern ein Einkommen und sei eine Gelegenheit für kleine Händler wie für grosse Firmen, ihre Waren zu vermarkten und Geld zu machen.
Die Organisatoren rechnen damit, dass die Maha Kumbh Mela bis zu ihrem Abschluss 250 Milliarden Rupien (2,6 Milliarden Franken) zur Wirtschaft beitragen wird. Dem gegenüber stehen staatliche Investitionen von 70 Milliarden Rupien für den Ausbau der Infrastruktur und die Vorbereitung des Festgeländes.
Die wenigsten Händler werden reich auf dem Fest
Die Händler auf der Strasse vor den Lagern der Akharas sind zufrieden mit dem Geschäft, auch wenn die wenigsten reich dabei werden. «Wir verdienen genug, um zu überleben», sagt die junge Verkäuferin Ganga, die mit ihrer Mutter aus der zentralindischen Stadt Ujjain gekommen ist. Auf einer Decke hat sie Gebetsketten und andere Devotionalien ausgebreitet, die sie von Grosshändlern aus Nepal kauft. Wie viele der Händler ist sie für die ganze Dauer der Maha Kumbh Mela in Prayagraj, bevor sie zum nächsten Festival zieht.
Auch der Bootsmann Siya Ram Nishad, der Pilger mit seinem Boot zum Sangam fährt, ist zufrieden mit dem Verdienst. Zu normalen Zeiten erhalte er für eine Fahrt 500 Rupien (5.20 Franken), doch während des Festivals könne er 5000 nehmen, sagt der drahtige 40-Jährige, der seit seiner Kindheit auf dem Fluss arbeitet. Nur dass die Regierung während der grossen Badetage den Bootsleuten aus Sicherheitsgründen die Fahrt zum Sangam untersagt hat, gefällt Nishad nicht.
Wie berechtigt die Sorgen sind, hat sich freilich am 29. Januar gezeigt, als es in den frühen Morgenstunden am Sangam zu einer Massenpanik kam. Während immer mehr Pilger auf die schmale Halbinsel zwischen Ganges und Yamuna drängten, brach gegen 4 Uhr früh an einer Absperrung Panik aus. Nach offiziellen Angaben wurden dreissig Menschen im Gedränge totgetrampelt. Die Opposition wirft der Regierung aber vor, das wahre Ausmass des Unglücks zu verschweigen.
Von den Pilgern ist keine Kritik an der Regierung zu hören
Obwohl die Polizei bei der Lenkung der Massen offensichtlich versagt hat, sind die Sadhu-Führer im Gespräch voll des Lobes für die Regierung. Auch von einfachen Pilgern wie Archana Gupta ist keine Kritik an den Organisatoren zu hören. Die rundliche Frau im roten Sari lebt für die Zeit des Festivals zusammen mit acht anderen Gläubigen in einem Zelt nahe der Eisenbahnbrücke über den Ganges. Als gläubige Hindu ist für sie das Schicksal vorgezeichnet und ein Tod während des Festes ein Schritt aus dem Kreislauf der Wiedergeburt.
Jeden Morgen steht Gupta um 4 Uhr auf für ein Bad im Fluss, dann verrichtet sie im Zelt ihr Gebet. Abends hört sie religiösen Predigten zu. Das Mittagessen ist ihre einzige Mahlzeit am Tag, sonst fastet sie während des Festivals. Kalpwas nennt man diese spirituelle Praxis, von der sich die Gläubigen Erlösung erhoffen. Rund eine Million sogenannte Kalpwasis sind es laut der Regierung, die sich während der Maha Kumbh Mela dem Gebet und dem Fasten widmen.
Auf dem Rückweg zum Flussufer sitzen Naga-Sadhus am Strassenrand. Wer den nackten, mit Asche beschmierten Männern 10 oder 20 Rupien hinwirft, erhält ihren Segen. Einer von ihnen ist Thanapati Mukund Giri. Seine Augen sind gerötet, ob von der Asche oder von Marihuana, ist unklar. Er habe bis 2016 für eine Gasfirma gearbeitet, sich dann aber entschlossen, Sadhu zu werden. «In der Firma hast du viele Chefs, hier habe ich nur Gott über mir», sagt er. Wenn er nicht auf einem Festival ist, lebt er in seiner Heimatstadt Barabanki als Wächter eines Tempels.
Die Sadhu-Orden wurden ursprünglich zur Verteidigung des Glaubens gegen die Muslime und rivalisierende Hindus gegründet. Die Bandbreite ihrer Glaubenspraktiken ist unübersehbar und für Aussenstehende nur schwer verständlich. So sitzen in einer Halle Hunderte junge Sadhus um offene Feuerstellen. Die Strahlen der untergehenden Sonne fallen durch den beissenden Rauch, während die Männer zum Klang religiöser Gesänge rhythmisch Körner in die Glut werfen.
Noch in der Nacht drängen sich Zehntausende am Ufer
Rasch weicht die Dämmerung der Nacht, doch der Strom der Pilger am Sangam reisst nicht ab. Zwar gilt der Morgen als segensreichste Zeit für das Bad, doch auch am Abend drängen sich noch Zehntausende im gleissenden Flutlicht der Scheinwerfer, um in die heiligen Flüsse einzutauchen. Viel Platz haben die Pilger dafür nicht. Denn da viele nicht schwimmen können, haben die Behörden entlang der Ufer schwimmende Plastikbarrieren errichtet.
Hinter den Barrieren liegen Boote mit Polizisten bereit, die eingreifen können, sollte doch einmal jemand ins offene Wasser hinaustreiben. Die Pilger stört aber weder der begrenzte Platz noch das Gedränge. Viele halten sich an den Händen, während sie gemeinsam untertauchen, die Männer in Shorts, die Frauen im Sari, auf den Lippen ein beseeltes Lächeln. Zum Abschluss befüllen sie für die Angehörigen zu Hause eine Flasche mit dem Wasser des heiligen Flusses, bevor sie nach einem letzten Selfie den langen Rückweg antreten.
Mitarbeit: Madhukar Mishra