Freitag, September 20

Schon im Jahr 2017 wird die Polizei wegen eines Streits zwischen den früheren Eheleuten aufgeboten. Nun stand die Frau vor Gericht.

Im Frühjahr 2017 bezichtigte die heute 34-jährige Frau ihren damaligen Ehemann – heute 54 Jahre alt – der Körperverletzung und Vergewaltigung. Der 20 Jahre ältere Mann war 2004 als Flüchtling in die Schweiz gekommen und hatte hier eine Schweizerin geheiratet, von der er sich später wieder scheiden liess. Er lernte die junge Äthiopierin im Jahr 2010 in deren Heimat kennen, wo sie 2015 heirateten. Seit 2015 wohnten sie zusammen in der Schweiz.

Der Fall beschäftigte die Justizbehörden schon seit sieben Jahren und brachte sie offensichtlich an den Anschlag. Dies zeigte sich auch wieder an den Umständen der Urteilseröffnung am Bezirksgericht Affoltern am Albis. Der Prozess hatte eigentlich schon am 4. Juni stattgefunden, das Urteil wurde am 14. Juni gefällt. Die mündliche Urteilseröffnung konnte aber erst Ende August stattfinden, nach Angaben der vorsitzenden Richterin weil bis dann kein Dolmetscher zur Verfügung stand.

Die Protagonisten stammen beide aus Äthiopien. Bis zum Schluss – und auch nach dem jetzt neuesten gefällten Urteil – blieb die Verteilung der Rollen als Opfer und Täterschaft unklar.

Probleme in der Ehe von Anfang an

Klar ist: Die Ehe verlief von Beginn weg alles andere als harmonisch. Im Frühjahr 2017 warf die Frau ihrem damaligen Ehemann vor, sie in der gemeinsamen Wohnung in Affoltern am Albis zwischen März 2016 und Januar 2017 mindestens einmal pro Monat, aber manchmal auch dreimal wöchentlich vergewaltigt oder sexuell genötigt zu haben, insgesamt mindestens elf Mal.

Am 7. April 2017 wurde die Polizei zu einem Streit zur Wohnung aufgeboten. Die verletzte Frau, die unter anderem einen frischen Nasenbeinbruch aufwies, erklärte, ihr Mann habe ihr das Bügeleisen an den Hinterkopf geschlagen, ihren Kopf an einen Türrahmen geknallt und sie die Treppe hinuntergestossen.

Im November 2019 wurde ein Prozess gegen den Ehemann am Bezirksgericht Affoltern geführt. Die Anklage verlangte damals eine Freiheitsstrafe von 63 Monaten und 10 Jahre Landesverweis wegen mehrfacher Vergewaltigung, mehrfacher sexueller Nötigung und einfacher Körperverletzung. Die Frau beantragte eine Genugtuung von 20 000 Franken. Das Verfahren, das über 50 000 Franken kostete, endete in einem Freispruch nach dem Grundsatz «in dubio pro reo».

Aufgrund von zahlreichen Widersprüchen in den Darstellungen der Frau bestanden damals für das Gericht unüberwindbare Zweifel an der Schuld des Ehemanns. Das Gericht bezog sich bei der Urteilsbegründung auch auf ein Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin, das die Kopfverletzung als «unspezifisch» bezeichnete – auf eine Bügeleisen-Attacke weise sie nicht hin. Der Freispruch ist inzwischen rechtskräftig.

Zweiter Prozess mit vertauschten Rollen

Im Nachgang zum ersten Prozess wurde der Spiess umgedreht und die 34-jährige Frau ihrerseits, die seit 2021 mit einem Schweizer verheiratet ist, wegen falscher Anschuldigung, mehrfacher, teilweiser versuchter Nötigung, Freiheitsberaubung und versuchten Betrugs angeklagt. Die Anträge des Staatsanwaltes waren happig: Er verlangte eine Freiheitsstrafe von 4,5 Jahren und 10 Jahre Landesverweis.

Eine These ging davon aus, dass die Frau ihren Mann zu Unrecht angeschwärzt habe, damit sie ihre Aufenthaltsbewilligung nach der Scheidung nicht verlieren würde.

Im Prozess vor Bezirksgericht Affoltern wurden beide Protagonisten nochmals ausführlich befragt. Der 54-jährige Ex-Mann erklärte, die Vorwürfe gegen ihn seien falsch gewesen. Zum Zeitpunkt der angeblichen Übergriffe habe die Frau gar nicht mehr in der gemeinsamen Wohnung gelebt, und die Verletzungen am 7. April 2017 habe sie sich selber zugefügt. Nach dem Strafverfahren gegen ihn sei alles, was er sich in 20 Jahren in der Schweiz aufgebaut habe, zerstört gewesen. Er verlangte eine Genugtuung von 29 600 Franken.

Die Beschuldigte machte im Prozess gegen sie keine Aussagen zur Sache. Trotzdem stellte ihr die vorsitzende Richterin zahlreiche Fragen. Daraus ging unter anderem hervor, dass die Verläufe der Chats zwischen ihr und ihrem damaligen Ehemann darauf hindeuteten, dass sie tatsächlich nicht mehr in der gemeinsamen Wohnung lebte und die geschilderten Verletzungen vom 7. April 2017 offenbar nicht mit dem Verletzungsbild des damaligen rechtsmedizinischen Gutachtens übereinstimmten. «Keine Aussage», wiederholte die Beschuldigte immer wieder.

Erneut Freispruch nach dem Grundsatz «in dubio pro reo»

Nun hat das Bezirksgericht Affoltern die Frau vollumfänglich freigesprochen. Auf das Genugtuungsbegehren des Privatklägers wurde nicht eingetreten. Die Kosten von erneut rund 50 000 Franken gehen auf die Staatskasse.

In der mündlichen Urteilsbegründung hält die vorsitzende Richterin fest, aus den Chatverläufen ergebe sich recht klar, dass die Beschuldigte im fraglichen Zeitraum tatsächlich längere Zeit nicht mehr in der Wohnung gewesen sei. Der von ihr geschilderte Ablauf, wie sie geschlagen worden sein soll, wirke aber glaubhaft und stimme doch auch mit dem rechtsmedizinischen Gutachten überein. Dass sie sich selber auf den Hinterkopf geschlagen habe, erscheine aus anatomischer Sicht nicht nachvollziehbar.

Die sexuellen Handlungen gegen sie wären auch bei längerer Abwesenheit von ihr in der Wohnung möglich gewesen. Ihre Angaben bei den Befragungen würden darauf hindeuten, dass sie sich unsicher gewesen sei, was sie als Ehefrau zu erdulden gehabt habe.

Bei den Befragungen mit Dolmetschern könnten auch Missverständnisse entstanden sein. Die Beschuldigte könne nicht für die Anträge der Staatsanwaltschaft gegen ihren Ehemann verantwortlich gemacht werden. Und auch die Aussagen des Privatklägers seien nicht widerspruchsfrei.

Als Fazit hält die Gerichtsvorsitzende fest, es sei unklar geblieben, was tatsächlich geschehen sei. Es könne der Frau nicht rechtsgenügend nachgewiesen werden, dass sie ihren damaligen Ehemann falsch angeschuldigt habe. Deshalb müsse auch sie nach dem Grundsatz «in dubio pro reo» freigesprochen werden. Ein Mitrichter betont, dieser Ausgang bedeute aber nicht, dass der Freispruch vom November 2019 gegen den Ex-Mann ein Fehlurteil gewesen sei. Es reiche einfach nicht für eine Verurteilung.

Urteil DG230002 vom 14. 6. 2024, noch nicht rechtskräftig.

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